Eine tiefergehende Integration gepaart mit anhaltendem Wachstum der Finanzmärkte war das Mittel der Wahl, um die Wirtschaft nach der Finanzkrise 2007/2008 stabiler zu machen. Nur wurde dieses Versprechen nicht eingelöst. Im gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Umfeld, das von mehreren Krisen gleichzeitig geprägt ist, stellen zusehends wachsende Schuldenstände die Finanzstabilität in Frage. Welche Konsequenzen hat das für Märkte und ihre Teilnehmer:innen?
Um diese zentrale Frage drehte sich eine mit Expert:innen aus Wissenschaft und Europäischer Zentralbank besetzte Diskussion, die das Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE, das Institut für Bank- und Finanzgeschichte, das Center for Financial Studies sowie das House of Finance der Goethe-Universität Frankfurt gemeinsam am 30. November 2022 veranstalteten. Ausgangspunkt für die Debatte unter dem Titel „Leveraged – financial stability in a high debt world“ bildete der gleichnamige Sammelband, herausgegeben von Ökonom Moritz Schularick von der Universität Bonn.
„Die Idee besteht darin, eine neue Generation von Forscherinnen und Forschern zusammenzubringen, die das Jahrzehnt seit der Weltfinanzkrise in Einzelbeiträgen für ein größeres Publikum zusammenfassen“, schickte Schularick der Debatte voraus. „Wir betrachten das große Ganze, blicken über technische Debatten hinaus.“ Somit gehe es darum, zu ergründen, was die Finanzwirtschaft immer wieder so krisenanfällig mache, wie groß der Sektor und wie engmaschig das öffentlich gestrickte Sicherheitsnetz sein sollten. „In ihren Beiträgen für dieses Buch hat die Nachwuchsforschung neue Denkrichtungen eingeschlagen“, erklärte Schularick und übergab damit an einen der Autoren des Buches, Kaspar Zimmermann.
Der SAFE-Wissenschaftler machte verzerrte Erwartungshaltungen als einen Hauptrisikofaktor für Finanzmärkte aus. „Kreditzyklen sind stimmungsgetrieben, das betrifft nicht nur einkommensschwache Haushalte, sondern vor allem auch die Mittelschicht“, erklärte Zimmermann. So seien irreführende Hauspreisprognosen mit verzerrten Erwartungen an Kreditzyklen verbunden. „Diese Erwartungen bestimmen sowohl die Kreditnachfrage als auch das Kreditangebot“, stellte der SAFE-Forscher fest. Ausgehend von Immobilienkrediten an Kreditnehmer:innen mit geringer Bonität, die in den USA seinerzeit zur Subprime-Krise führte, bevor es zur weltweiten Finanzkrise kam, bemerkte Zimmermann, komme es im Krisenfall darauf an, eine Ausweitung und Verstärkung zu vermeiden.
Widerstandsfähigere Bankensysteme
Eine Verzerrung im Rückblick beobachtet ebenso Daniel Dieckelmann aus der EZB-Generaldirektion „Makroprudenzielle Politik und Finanzstabilität“: „Eine genaue Definition, was eine Bankenkrise ist und auszeichnet, existiert nicht“, stellte der Ökonom fest, der ebenfalls einer der Autoren des von Schularick vorgestellten Buchs ist. Stattdessen würden wir uns darauf verlassen, Bankenkrisen zu erkennen, „wenn wir sie sehen“. Derartige Schocks würden als binäre Ereignisse betrachtet, anstatt kontinuierliche Überprüfungen durchzuführen. Seine aktuellen Arbeiten, die sich auf quantitative Daten zu historischen Bankenkrisen stützen, zielen auf solche Überprüfungen ab.
„Nur 35 Prozent aller Bankenkrisen gehen auf gescheiterte Kreditbooms zurück, aber etwa 25 Prozent auf finanzielle Verflechtungen, so zum Beispiel in Deutschland im Jahr 2008“, führte Dieckelmann aus. Im Vergleich erwiesen sich einige Länder wie Kanada, Australien oder Neuseeland finanziell stabiler als andere. Insgesamt befand Dieckelmann, dass Bankensysteme widerstandsfähiger gegen reale Schocks geworden seien, da die politischen Entscheidungsträger:innen mittlerweile über die passenden Instrumente verfügen würden. „Aber die Kehrseite ist, dass Krisen mit finanziellem Ursprung häufiger geworden sind.“
In der Podiumsdiskussion, die auf die Präsentation der Buchbeiträge folgte, betonte Loriana Pelizzon, Leiterin der SAFE-Forschungsabteilung „Financial Markets“, auf die Frage Schularicks nach heutiger Größe, Rolle und Bedeutung der Finanzmärkte: „Die Welt wird immer stärker fremdfinanziert.“ Zwei Aspekte gelte es dabei insbesondere zu hinterfragen: warum diese Art von Struktur heute vorherrsche und wie sich welche Anreize setzen ließen, um den Finanzsektor zu verkleinern. Zudem sei es wichtig, die Rolle von Zentralbanken nicht nur als Kreditgeber letzter Instanz, sondern auch als Marktmacher letzter Instanz kritisch zu bewerten. „Zentralbanken sollten intervenieren, aber wir müssen von vornherein klarstellen, dass dies nicht zur Normalität wird“, sagte Pelizzon. Refinanzierungen sollten dabei von Eigenkapital und nicht durch immer neue Schulden gedeckt sein.
Makroprudenzielle Regulierungsmaßnahmen könnten zwar helfen, den Umfang des Finanzsektors einzudämmen, so die SAFE-Wissenschaftlerin weiter. Es bestehe aber ein großer Anreiz für Marktteilnehmer:innen, diese Regeln zu umgehen. „Wir müssen einen Mechanismus finden, um diese Fehlanreize zu vermeiden.“ Ein hohes Strafmaß und schnelles Handeln seien dabei zwingend erforderlich.
Krisen erfordern schnelle Reaktionen
Fehlanreize ließen sich nicht vollständig unterbinden, hielt Isabel Vansteenkiste dagegen. „Wenn sich der Finanzsektor vergrößert, muss auch die Politik stärker reagieren“, so die EZB-Generaldirektorin „Internationale und europäische Beziehungen“. Im akuten Krisenfall, wie beispielsweise bei Ausbruch der Coronapandemie, brauche es eine schnelle Reaktion, es bliebe keine Zeit, erst monatelang zu analysieren. „Unsere erste Reaktion in dieser Krise war wichtig und gut“, bekräftigte Vansteenkiste.
Bei der Frage nach Ursachen und Treibern von Krisen, merkte die EZB-Vertreterin an, dass vor allem kurzfristiges Denken Krisen noch zusätzlich befeuern würde. Aus Sicht von Lena Tonzer, die an der Vrije Universiteit Amsterdam forscht und am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle eine Forschungsgruppe leitet, sind dafür eher Herdentriebe verantwortlich. Anknüpfend an die Ausführungen Daniel Dieckelmanns hielt Tonzer fest, dass es wichtig sei zu differenzieren, mit welcher Art Krise man es zu tun habe: „Lehren, die wir aus dem Bankensektor gezogen haben, müssen nicht für andere Sektoren gelten.“ Krisen mit zu hohen Arbeitslosenzahlen und starken Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts seien besonders verheerend und sollten vermieden werden.