„Nichts, was zu menschlichem Fortschritt führt, wird durch einhellige Zustimmung erreicht“, soll Christoph Kolumbus einmal gesagt haben. Dies ist übrigens auch der Grund, warum er seine Besatzung über die Länge der Seereise belogen hat: Hätte er die Wahrheit gesagt, hätte er sich aller Wahrscheinlichkeit nach einer Meuterei gegenübergesehen.
Ein solch fragwürdiger Umgang mit der Wahrheit ist im heutigen Zentralbankwesen nicht möglich. Ökonomische Daten sind reichlich vorhanden und öffentlich zugänglich. Zahlreiche Kommunikationskanäle haben den Spielraum für Vertraulichkeit auf ein Minimum minimiert. Die Mitglieder der Entscheidungsgremien – sozusagen die geldpolitischen Entsprechungen der Besatzungsmitglieder von Kolumbus – werden von ihren Mitarbeitern vor jeder Sitzung ausführlich gebrieft. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, ist Dissens möglich; eigentlich kommt er sogar ziemlich häufig vor. Und Meuterei gegen die Führung des Vorsitzenden kann jederzeit vorkommen. Konsens herzustellen ist heute mehr als alles andere das, worum es in der "Kunst" des Zentralbankwesens geht.
Niemals in den vergangenen Jahren war dieses Spannungsfeld relevanter als in der jüngsten Vergangenheit der EZB. Die letzte Phase der Amtszeit von Mario Draghi war von heftiger, interner Kritik geprägt, die in der Veröffentlichung einer offenen Dissens-Erklärung auf der Website einer Notenbank des gleichen Währungssystems gipfelte. Weitere Unstimmigkeiten wurden in anderer Form geäußert, sowohl von aktuellen als auch von ehemaligen europäischen Notenbankern. Ein Grund dafür, dass solche Äußerungen eine so ungewöhnliche und beschämende Form angenommen haben, besteht darin, dass dem EZB-Rat ein formelles Verfahren zur Veröffentlichung interner Unstimmigkeiten fehlt.
Im Gegensatz dazu veröffentlicht der US-amerikanische Offenmarktausschuss (Federal Open Market Committee, FOMC) direkt nach jeder Sitzung Aufzeichnungen über abweichende Mitglieder. Die EZB-Satzung ist in dieser Hinsicht vage und sieht vor, dass "die Geschehnisse der Sitzungen vertraulich sein sollen"; eine Formulierung, die die Veröffentlichung einzelner Positionen weder verlangt noch verbietet.
Könnte die EZB dem Beispiel der Fed folgen?
Die neue Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, hat eine Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB eingeleitet. Die Art und Weise, wie mit abweichenden Meinungen umgegangen werden soll, dürfte wahrscheinlich Teil einer solchen Überprüfung sein. Ein Notenbank-Gouverneur des Eurosystems hat bereits seine Sympathie für das Beispiel der Fed zum Ausdruck gebracht; andere teilen vermutlich seine Ansicht. Gute Nachrichten, könnte man meinen: Mehr Transparenz ist per se gut und kann dazu beitragen, Dissens einzudämmen und abzumildern, indem sie ihn offenlegt. Leider ist die Schlussfolgerung aber nicht so einfach.
Das US-amerikanische System ist kein Vorbild, an das sich Europa leicht anpassen könnte, trotz einiger Gemeinsamkeiten. Ähnlich wie die regionalen Vertreter im FOMC handeln die nationalen Notenbankpräsidenten im EZB-Rat nicht nur im Interesse des Landes, aus dem sie kommen, sondern des gesamten Währungsgebiets. Jedes stimmberechtigte Mitglied gibt eine Stimme ab. Das politische Ziel, die Preisstabilität, gemessen an den Preisänderungen in einem Warenkorb von Konsumgütern, ist durch die Konstruktion geographisch gewichtet. Hier enden jedoch die Gemeinsamkeiten. Die regionalen Präsidenten der Fed, die nach dem Rotationsprinzip im Offenmarktausschuss des Bundes abstimmen, werden vom Gouverneursrat der Fed mit Sitz in Washington gebilligt und von den wahlberechtigten Mitgliedern der Regionalvorstände gewählt, von denen die Hälfte von der Fed selbst nominiert wird. Im Gegensatz dazu werden die Notenbank-Gouverneure im EZB-Rat rein auf nationaler Ebene ernannt.
Obendrein ist die Zahl der regionalen Präsidenten der Fed begrenzt, die nur 5 von 12 Stimmen ausmachen; die nationalen Zentralbankpräsidenten geben 16 von insgesamt 22 Stimmen ab (bzw. 15 von 21, je nach Rotation). Diese Gründe zusammengenommen führen dazu, dass das Risiko im Fall der EZB viel höher ist, dass nationale Interessen die Entscheidungen verzerren könnten. Dies gilt auch für die Möglichkeit, dass die Offenlegung von Dissens die politischen Entscheidungsträger einem übermäßigen Druck aussetzen und ihr Abstimmungsverhalten ändern könnte.
Sollte man also die Hoffnung auf mehr Transparenz und eine geregelte Äußerung des Dissens aufgeben? Nicht unbedingt. Die eigentliche Frage, die die Debatte über den Dissens in den Vordergrund rückt, betrifft das Verfahren zur Ernennung der nationalen Notenbankpräsidenten. Der Status quo weist zwei bedenkliche Merkmale auf. Das erste besteht darin, dass die Mehrheit derer, die über die europäische Währung entscheiden, ohne jegliche europäische Beteiligung ernannt wird. Das zweite Merkmal ist, dass die nationalen Notenbankpräsidenten im Gegensatz zu ihren Kollegen im EZB-Direktorium nicht der europäischen Rechenschaftspflicht unterliegen, obwohl sie bei der Festlegung des geldpolitischen Kurses des Euroraums die gleiche Befugnis haben.
Es ist höchste Zeit, dass sich die europäischen Institutionen (Europäischer Rat und Parlament, EZB, in einer Kombination) an der Ernennung der für den Euro Verantwortlichen beteiligen. Dieser Weg mag in Zeiten eines wuchernden Nationalismus schwierig erscheinen, aber genau dorthin muss die Reise gehen. Politiker, die sich für mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht für nicht gewählte geldpolitische Entscheider einsetzen, sollten bereit sein, diesen Schritt in Betracht zu ziehen.
Ignazio Angeloni ist Senior Policy Fellow am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE, Senior Fellow an der Harvard Kennedy School und ehemaliges Mitglied des Aufsichtsgremiums der EZB.