SAFE Finance Blog
04 Jun 2024

Zinssenkungen? Wenn man nicht genau weiß, was man tut, sollte man behutsam sein

Ignazio Angeloni: In der geldpolitischen Debatte scheint es nur eine einfache Frage zu geben: Wann werden die Zentralbanken die Zinssätze senken, wie schnell und in welchem Umfang?

Wirtschaftsforschende verwenden gerne eine Redewendung von Winston Churchill („Never let a good crisis go wasted“) und meinen damit, dass Wirtschafts- und Finanzkrisen Lektionen sind, die nicht ignoriert werden sollten.

In den vergangenen 15 Jahre blicken wir nicht nur auf eine Krise, sondern eine ganze Reihe von Krisen zurück: ein Beinahe-Zusammenbruch des Finanzsystems, gefolgt von einer Rezession, eine massive, lang anhaltende Geldmengenausweitung („Quantitative Easing“, QE), eine weltweite Pandemie mit Millionen von Toten, Schließungen und einer weiteren Rezession, ein Inflationsschock, wie es ihn in den fünfzig Jahren zuvor nicht gegeben hat und schließlich – und das ist hoffentlich das Ende – Krieg in Europa und im Nahen Osten.

Die jüngsten geldpolitischen Bewertungen sind wenig hilfreich

Es gäbe genug für politischen Entscheidungstragende, insbesondere in den Zentralbanken, ihre Konzepte und Praktiken zu überdenken und auf ein vollkommen anderes und unvorhersehbares globales Umfeld vorzubereiten. Nichts davon ist geschehen. Die US-amerikanische Zentralbank Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) haben in den Jahren 2019 und 2020 ihre Geldpolitik überprüft, als die meisten der oben genannten Schocks gerade erst entstanden. Beide Strategieüberprüfungen scheinen heute weitgehend überholt oder zumindest unvollständig zu sein. Einen Antrieb sie zu wiederholen, gibt es nicht.

Der von dem ehemaligen Fed-Präsidenten Ben Bernanke für die Bank of England erstellte Bericht beschränkt sich auf Prognosetechniken und Kommunikation; er erfasst nicht, was Martin Wolf, der leitende Wirtschaftskommentator der Financial Times, als „das große Inflationsdesaster“ bezeichnete. Die akademische Forschung braucht Zeit und neigt dazu, hinterherzuhinken; der Eindruck, unterstrichen von Suchanfragen, ist, dass die geldpolitische Forschungsleistung in den späten 1990er Jahren, zur Zeit der „Great Moderation“, der großen Mäßigung, ihren Höhepunkt erreichte und danach zurückging.

Druck für Zinssenkungen

Die wirtschaftliche „Permakrise“ – wie es Gordon Brown, Mohammed El Erian und Michael Spence in einem kürzlich erschienenen Buch nennen – läuft Gefahr, verschwendet zu werden. Die geldpolitische Debatte scheint sich nur noch um eine einfache Frage zu drehen: Wann werden die Zentralbanken die Zinssätze senken, wie schnell und um wie viel? Der Druck, der auf ihnen lastet, ist erheblich. Die Finanzinstitute profitieren vor allem dann, wenn die Zinssätze sinken und die Kreditbedingungen locker sind. Ihr Wunsch trifft sich mit dem der verschuldeten Regierungen diesseits des Atlantiks, deren Politiker:innen sich häufig zur EZB-Politik äußern.

Die Presse greift dies auf: Argumente und Analysen aus Newslettern der Investmentbanken fließen in die Fragen ein, die der EZB-Präsidentin bei ihren regelmäßigen Pressekonferenzen gestellt werden.

Unterschiedliche Geldpolitik in den USA und im Euroraum

Ohne das große Thema – welche Geldpolitik für eine völlig veränderte Welt geeignet ist – anzusprechen, ist die simple Folgerung hier, dass die aktuelle Frage nicht von der allgemeinen Frage losgelöst ist. Aus Mangel an angemessenen Antworten auf die letztere, sollte man bei der richtigen Herangehensweise an die erstere Vorsicht walten lassen.

Die jüngsten Erfahrungen der USA und des Euroraums unterscheiden sich stark. Die Inflationsentwicklung war in den Jahren vor Corona auffallend ähnlich, doch die jeweiligen Geldpolitiken wichen stark voneinander ab. Die US-Notenbank hat den Zielzinssatz (Federal Funds) zwischen 2015 und 2019 deutlich angehoben, während die EZB den Zinssatz in den negativen Bereich gebracht und dort gehalten hat. Als Corona auftrat, hatte die Fed mehr „Spielraum“ bei den Zinssätzen: Die EZB reagierte vor allem mit QE (einer neuen Pandemiefazilität, genannt PEPP).

Abbildung 1: Inflation in den USA und im Euroraum – Quellen: Federal Reserve Bank of St. Louis und EZB-Datenbanken.

Sowohl die Fed als auch die EZB haben ihre Reaktion auf den Inflationsanstieg um etwa ein Jahr verzögert – die Fed etwa zwischen März 2021 und März 2022, die EZB zwischen August 2021 und Juli 2022.

In den USA stieg die Inflation früher, im Euroraum erreichte sie ihren Höhepunkt später auf einem höheren Niveau. In beiden Fällen führten die verzögerten Reaktionen zu plötzlichen und steilen Zinserhöhungen, allerdings auf ganz unterschiedlichem Niveau: Die Fed erhöhte von null auf 5,25 Prozent, die EZB von minus 0,5 Prozent auf 4,0 Prozent. Und das alles, während die jeweiligen Inflationsraten, gemessen an der jeweiligen Gesamtinflation, nun ungefähr gleich hoch sind.

Abbildung 2: US-Zinsen. Quelle: Federal Reserve Bank of St. Louis; und Abbildung 3 :Zinssätze im Euroraum. Quellen: EZB-Datenbanken.

Aus diesen Erfahrungen ergeben sich vielmehr grundsätzliche Fragen zu den Folgen langanhaltender monetärer Expansionen und drastischer geldpolitischer Kehrtwenden für die Preis- und Finanzstabilität.

Simpel gestrickte monetaristische Theorien sind heute weitgehend diskreditiert, aber es ist unmöglich, die vergangenen 15 Jahre zu betrachten, ohne sich zu fragen, ob die lange Phase der quantitativen Lockerung ohne geeignete Ausstiegsstrategien den Anstieg der weltweiten Inflation in den frühen 2020er Jahren verursacht oder zumindest ermöglicht hat. Die Frage erstreckt sich auch auf die Finanzstabilität: In den USA ist die beispiellose Abfolge von überstürzter Expansion und Restriktion in den Jahren 2020 bis 2022, die zu massiven Verschiebungen in den Bankbilanzen führten, einer der Hauptgründe der Bankenturbulenzen im Frühjahr 2023, die zu Bankenzusammenbrüchen führten und Schockwellen in den globalen Finanzsektor sandten (In einem demnächst erscheinenden Bericht eines gemeinsamen US-amerikanisch-europäischen Teams werden diese Fragen ausführlich untersucht, siehe I. Angeloni, S. Claessens, A. Seru, S. Steffen, B. Weder di Mauro: Much Money, Little Capital, Few Reforms: The 2023 Banking Turmoil; 2024 Geneva Report, in Ausarbeitung).

Notwendigkeit einer breiteren Perspektive

Geldpolitik und Finanzstabilität, die in den Zentralbanken traditionell getrennt sind und nur in begrenztem Maße miteinander interagieren und sich gegenseitig kontrollieren, sind möglicherweise enger miteinander verbunden, als wir dachten.

Welche Lehren lassen sich daraus für die Formulierung und Quantifizierung der Ziele von Zentralbanken ziehen? Wie lassen sich verschiedene Quellen von Schocks erkennen und wie auf sie reagieren, welche Vorteile und Gefahren bergen negative Zinssätze, welches Maß an Zinsdifferenzierung und Vorabbindung ist das richtige, und vor allem, welches Zinsniveau sollten Zentralbanken im Durchschnitt des Zyklus anstreben?

Währenddessen…

Die Zentralbanken sind bestrebt, bereits Mitte des Jahres wichtige Entscheidungen zu treffen, lange bevor diese Fragen geklärt, geschweige denn beantwortet sind. Das mahnt zur Vorsicht. Der derzeitige milde Anti-Inflationskurs funktioniert. Die Inflation geht zwar zurück, ist aber noch nicht besiegt. Wenn es eine Lektion gibt, die wir bereits aus der jüngsten Vergangenheit gelernt haben, dann ist es diese: Man sollte die Zukunft nicht als gesetzt ansehen. Die kurzfristigen Zinssätze sind in den USA etwas höher, in der Eurozone niedriger und nahe an den historischen Höchstständen. Während die Fed zu warten scheint, deuten die letzten Äußerungen der EZB auf eine Zinssenkung hin. Gibt es dafür Spielraum? Bestenfalls wenig. Wenn keine bösen Überraschungen bevorstehen, könnte ein kleiner Schritt – sagen wir ein Viertelprozentpunkt – in Frage kommen, aber nicht die Reihe von Zinssenkungen, die die Märkte in jüngster Zeit erwartet haben.

„Wenn man nicht genau weiß, was man tut, sollte man behutsam sein“, so ein altes und weises Motto.


Ignazio Angeloni ist SAFE Senior Fellow, Teilzeitprofessor am Robert Schuman Centre for Advanced Studies des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz und früheres Mitglied des EZB-Aufsichtsrats.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf IEP Bocconi veröffentlicht.

Blogbeiträge repräsentieren die persönlichen Ansichten der Autor:innen und nicht notwendigerweise die von SAFE oder seiner Beschäftigten.