Betrachtet man die entscheidende Rolle von ESG-Ratings (Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung, Environmental, Social, Governance) in der Investitionslandschaft, drängt sich eine Frage auf: Können wir ESG-Ratings vertrauen? Diese Frage ist sowohl für Regulierungsbehörden wichtig, die verlässliche Bewertungen des Nachhaltigkeitsprofils von Unternehmen anstreben, als auch für Investor:innen, die sich auf dem komplexen Terrain der ESG-Ratings zurechtfinden wollen, um das Risiko von Fehlallokationen und Greenwashing zu minimieren.
Diese Diskussion erfolgt vor dem Hintergrund eines neuen Gesetzesvorschlags zu ESG-Ratings der Europäische Union vom Februar 2024. Die Gesetzesinitiative zeigt, wie dringend Klarheit und Verlässlichkeit bei ESG-Ratings sind – einem Bereich, in dem zu lange Unklarheit geherrscht hat. Nach der neuen Verordnung müssen ESG-Ratingagenturen, die in der EU tätig sind, von der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) zugelassen und beaufsichtigt werden.
Der Vorschlag soll diese doppelte Wesentlichkeit stärken, indem ESG-Ratingagenturen dazu angehalten werden, gründlicher zu bewerten und zu berichten, wie die bewerteten Unternehmen die Nachhaltigkeitskriterien beeinflussen. Damit geht der Entwurf einen Schritt weiter als bisher. Außerdem sieht der Vorschlag vor, dass ESG-Ratings explizit nach den Säulen Umwelt, Soziales und guter Unternehmensführung aufgeschlüsselt werden müssen. Wo dies nicht möglich ist, muss die Agentur klar darlegen, welches Gewicht die einzelnen Säulen für das ESG-Gesamtrating haben. Diese Initiative ist ein wichtiger Schritt, um die Transparenz zu verbessern.
Das Labyrinth der ESG-Rating-Methodik entschlüsseln
Eine Studie von Berg et al. (2022) unterstreicht den Regulierungsbedarf indem sie eine erhebliche Inkonsistenz zwischen den ESG-Ratings verschiedener Anbieter aufzeigt, die sich in einer Korrelation von nur 54 Prozent ausdrückt. Diese Uneinheitlichkeit hat negative Auswirkungen auf nachhaltige Investitionen, da sie zu unterschiedlichen Anlageuniversen und damit zu unterschiedlichen Benchmarks führt (Billio et al. (2021)). In unserer aktuellen Studie dokumentieren wir als Ursache dieser Inkonsistenz unterschiedliche Rechnungslegungspraktiken. Die Ergebnisse zeigen zum einen, dass die einzelnen Säulen E, S und G ungleiche Beiträge zum ESG-Gesamtergebnis leisten und offenbaren zum anderen eine geringe Ko-Bewegung zwischen den Säulen und erhebliche Unterschiede bei E-, S- und G-Ratings je nach Anbietendem.
Abbildung 1 aus Billio et al. (2024) zeigt die Korrelationen und Intra-Korrelationen zwischen ESG-Ratings und ihren Säulen für Bloomberg, Refinitiv, RobecoSAM und Sustainalytics. Mithilfe der Korrelation soll sich zeigen, welche Säulen die größte Erklärungskraft für das gesamte ESG-Rating haben. Die Intra-Korrelationen gibt Aufschluss darüber, ob Unternehmen, die in einem Bereich, zum Beispiel der Umweltdimension, gut abschneiden, tendenziell auch in den Bereichen Soziales und Governance gut abschneiden.
Es zeigt sich ein interessantes Muster: Die Umweltsäule weist bei allen Ratingagenturen eine hohe Korrelation mit der ESG-Säule auf, was auf ihre signifikante Rolle zur Erklärung des kumulativen ESG-Ratings hinweist und die bemerkenswerte Konsistenz ihres Einflusses bei den verschiedenen Ratingagenturen unterstreicht. Diese hohe Korrelation nimmt bei den Säulen Soziales und gute Unternehmensführung ab, was auf deren geringere Erklärungskraft für das ESG-Gesamtrating hindeutet. Es scheint also, dass eine Verbesserung von Umweltpraktiken der wichtigste Aspekt für Unternehmen ist, die ihr ESG-Gesamtrating optimieren wollen. Daraus ergibt sich eine erste Lektion: Wenn ein Unternehmen gut in E ist, ist es wahrscheinlich auch gut in ESG.
Betrachtet man jedoch mit der Intrakorrelation genauer, wie sich die Säulen gemeinsam entwickeln, wird deutlich, dass die Governance-Säule häufig von den Umwelt- und Sozialsäulen abweicht. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass Stärken in einem Bereich nicht notwendigerweise Schwächen in einem anderen Bereich ausgleichen, was die unterschiedliche und unabhängige Natur der einzelnen Säulen zur ESG-Gesamtleistung unterstreicht.
Eine zweite Lektion ist, dass Unternehmen weniger Anreize haben, die Säule G zu stärken. Besonders auffällig ist die Intrakorrelation von RobecoSAM, deren Rating auf Umfragedaten basiert, die das Unternehmen selbst erhoben hat. Es zeigt außergewöhnlich hohe Korrelationen/Interkorrelationen zwischen allen drei Säulen, was auf einen fast binären Ansatz bei der Bewertung von Unternehmen hindeutet: Wenn ein Unternehmen in E gut ist, ist es auch in S und G gut. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die Methoden von Sustainalytics, Bloomberg und Refinitiv, die hauptsächlich öffentliche Datenquellen wie Unternehmensberichte und Nachrichten verwenden, deutlich. Diese Diskrepanz deutet auf grundsätzliche Herausforderungen hin, eine einheitliche ESG-Methodik und -Bewertung zu erreichen.
Variabilität verstehen: Ein genauerer Blick auf Unterschiede in ESG-Ratings
Um die Unterschiede zwischen den Ratingagenturen besser zu verstehen, untersuchen wir die durchschnittliche Standardabweichung zwischen den ESG-Ratings (und ihren einzelnen Säulen) für eine Gruppe von Unternehmen, die zwischen 2016 und 2021 von allen vier Agenturen bewertet werden (siehe Abbildung 2). Die Standardabweichung in diesem Zusammenhang hilft uns, den Grad der Uneinigkeit zwischen den Ratingagenturen zu verstehen. Die Governance-Dimension weist dabei die größte Abweichung auf, was auf eine hohe Uneinigkeit deutet und zeigt, wie schwierig es für Ratingagenturen ist, eine einheitliche Haltung zu Corporate-Governance-Praktiken zu erreichen.
Im Gegensatz dazu weist das ESG-Gesamtrating die geringste Abweichung auf, was auf mehr Konsens zwischen den Agenturen hindeutet, obwohl deren Einschätzungen den einzelnen Säulen voneinander abweichen. Die Diskrepanzen bei den Komponenten E, S und G heben sich somit auf ESG-Gesamtebene teilweise auf, was auf erhebliches für ESG-Daten und Methoden charakteristisches Hintergrundrauschen schließen lässt.
Diese Gegenüberstellung zeigt, wie komplex die ESG-Bewertung ist und offenbart sowohl starke Unterschiede als auch unerwartete Ähnlichkeiten innerhalb der Ratingbranche. Dieser auffällige Kontrast unterstreicht die Bedeutung des EU-Vorschlags, da er zeigt, dass Anleger:innen, die sich ausschließlich auf das ESG-Gesamtrating verlassen, sich über Abweichungen zwischen den einzelnen Säulen möglicherweise nicht vollständig im Klaren sind und die Notwendigkeit von größerer Transparenz und einer ausführlicheren ESG-Berichterstattung unterstreicht.
Diese Studie zeigt die Komplexität und die Herausforderungen im Zusammenhang mit ESG-Ratings und wie entscheidend Transparenz und Standardisierung in diesem Bereich sind. Der Regulierungsvorschlag der EU geht diese Herausforderungen an, indem er die Zulassung und Beaufsichtigung von ESG-Ratinganbietern durch die ESMA vorschreibt und Transparenzanforderungen durchsetzt.
Die Regulierungsbehörden müssen sicherstellen, dass ESG-Ratings als verlässlicher Kompass für nachhaltige Investitionsentscheidungen dienen. Dieser Schritt soll nicht nur das Vertrauen von Investor:innen und Aufsichtsbehörden in ESG-Ratings stärken, sondern auch die Bedeutung der einzelnen Säulen-Ratings unterstreichen und so den Fokus auf nachhaltige Investments nicht verwässern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, die zunehmende Relevanz von ESG-Ratings, gestützt durch Wissenschaft und regulatorische Maßnahmen, mehr Klarheit und Verantwortlichkeit im nachhaltigen Finanzwesen erfordert. Während die EU ihren Regulierungsrahmen ausbaut, sind gemeinsame Anstrengungen von Regulierungsbehörden, Investor:innen und Ratingagenturen entscheidend, um sicherzustellen, dass ESG-Ratings tatsächlich die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen widerspiegeln und Investitionen in eine grünere und nachhaltigere Zukunft lenken.
Literatur
Berg, F., Koelbel, J. F., Rigobon, R., 2022. Aggregate confusion: The divergence of esg
ratings. Review of Finance 26, 1315–1344, https://doi.org/10.1093/rof/rfac033
Billio, M., M. Costola, I. Hristova, C. Latino, and L. Pelizzon (2021), Inside the ESG Ratings: (Dis)agreement and performance, Corporate Social Responsibility and Environmental Management, special issue on Environmental, social, governance: Implications for businesses and effects for stakeholders, vol 28, 5, 1426-1445
Billio, M., Fitzpatrick, A., and Latino, C., and Pelizzon, L., Unpacking the ESG Ratings: Does One Size Fit All? (February 29, 2024). SAFE Working Paper No. 415, https://ssrn.com/abstract=4742445
Monica Billio ist Professorin für Ökonometrie an der Universität Venedig und SAFE Fellow.
Aoife Claire Fitzpatrick ist Doktorandin am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE.
Carmelo Latino ist Doktorand am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE.
Loriana Pelizzon leitet die SAFE-Forschungsabteilung Financial Markets und ist Professorin für Law and Finance an der Goethe-Universität Frankfurt.
Blogbeiträge repräsentieren die persönlichen Ansichten der Autor:innen und nicht notwendigerweise die von SAFE oder seiner Mitarbeiter:innen.