Wenn Arbeitnehmer über das übliche Renteneintrittsalter hinaus arbeiten, stärkt das die potenzielle Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaft. Zugleich profitieren auch die Arbeitnehmer von der zusätzlichen Erwerbstätigkeit: Nach den derzeit geltenden Regelungen erhalten sie für jedes zusätzliche Jahr einen Zuschlag von sechs Prozent mehr Rente, und zwar für die gesamte Bezugsdauer. Welche Effekte daraus für das Rentensystem entstehen, haben Ökonomen des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) kürzlich genauer unter die Lupe genommen.
Für das Rentensystem sei die zusätzliche Erwerbstätigkeit nach den derzeit geltenden Regelungen zumindest zweischneidig: Das Ergebnis ihrer Berechnungen ist, dass das längere Arbeiten von Rentenversicherten über das Regelrenteneintrittsalter bei der derzeit herrschenden Lebenserwartung für sich genommen ein Verlustgeschäft für das Rentensystem sei, was zu niedrigeren Renten und zu höheren Beitragssätzen führe. Sie regen deshalb in ihrem Diskussionsbeitrag an, erstens die Zuschläge in der Rentenversicherung zu reduzieren und zweitens, diese an die fernere Lebenserwartung zu koppeln. Im Beitrag heißt es: „Konkret sollte der Wert von sechs Prozent reduziert werden. Zudem sollten die Prozentsätze für die jeweiligen zusätzlichen Arbeitsjahre aufsteigend gestaffelt werden.“
Was ist nun von dieser Initiative zu halten? Der erste Vorschlag ist meines Erachtens irreführend und lenkt vom eigentlichen Problem der Zu- und Abschläge ab. Der zweite, eine Staffelung und damit eine Koppelung an die fernere Lebenserwartung, ist aus meiner Sicht dagegen durchaus sinnvoll.
Zum ersten: die Ausgestaltung der Zuschläge hängt von der Perspektive ab, wie dieser Beitrag wertneutral betont. Ich möchte eine Wertung vornehmen: die Perspektive des Individuums, eine anreizgerechte, scheint mir doch nach aller Abwägung die angemessene zu sein. Der Grund ist, dass die Rentenversicherung aus der ex-ante-Perspektive, also vor Eintreten in das Erwerbsleben in jungen Jahren, zwar zahlreiche Versicherungselemente beinhaltet, was eine gesamt niedrige Rendite der Rentenversicherung rechtfertigt. Aus der ex-post-Perspektive, also kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand, ist dies aber nicht so: um den Ruhestandszeitraum herum sind Versicherungselemente wie Grundsicherung im Alter, Hinterbliebenenrente oder Erwerbsminderungsrente weitgehend irrelevant, so dass einzig die Anreizkompatibilität zählen sollte. Und das würde höhere Zuschläge erfordern, wenn die zusätzliche Erwerbstätigkeit individuell lohnenswert sein soll.
Der Vorschlag der IfW-Ökonomen lenkt vom eigentlichen Problem ab: Relevanter sind die zu geringen Abschläge bei Frühverrentung von derzeit drei Prozent, sowie der Sprung von drei Prozent Abschläge auf sechs Prozent Zuschläge zum Regeleintrittsalter. Sinnvoll wäre es, diese Regelung durch eine kontinuierlich steigende Funktion zu ersetzen, die im Durchschnitt auf einem höheren Niveau als drei Prozent startet – also höhere Abschläge bei Frühverrentung – und auf einem etwas höheren Niveau als den heutigen sechs Prozent endet (etwa bei sieben bis acht Prozent). Dies sollte im Durchschnitt gelten, da die Zu- und Abschläge an die fernere Lebenserwartung von Männern und Frauen gekoppelt sein sollten. Diese wiederum liegen auf unterschiedlichem Niveau: Frauen im Alter von 65 Jahren haben nach aktuellen Zahlen eine Lebenserwartung von etwa 86 Jahren, bei Männern sind es etwa 83 Jahre. In 20 Jahren werden es bei Frauen etwa 88 Jahre und bei Männern etwa 86 Jahre sein (Berechnet auf Basis der Daten der Vereinten Nationen . Der Einfachheit werden hier Querschnittsdaten verwendet. Richtigerweise sollte die Indizierung durch die Lebenserwartung der entsprechenden Kohorten erfolgen). Da Frauen länger leben und Rente beziehen, sollten sie also niedrigere Raten erhalten.
Es ist auch wichtig zu betonen, dass in dieses Kalkül nicht die positiven Effekte einer höheren Erwerbstätigkeit im Alter auf die gesamtwirtschaftliche Aktivität eingehen. Aus dieser Perspektive stellen auf individuellen Anreizgesichtspunkten basierende Ab- und Zuschläge immer noch eine Untergrenze dar.
Außerdem sollte diese Funktion, wie von den IfW-Ökonomen vorgeschlagen, an die fernere Restlebenserwartung gekoppelt sein. Die koordinierte Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes (Destatis) gibt darüber Auskunft. Schließlich werden auch andere Größen der Rentenversicherung an statistische Werte gekoppelt, wie beispielsweise der Nachhaltigkeitsfaktor. Ähnlich ist das Regelrenteneintrittsalter implizit an die Lebenserwartung gekoppelt. Statt einer Festschreibung, wie es die jetzige Gesetzgebung vorsieht, wäre eine direkte Indizierung auch hier sinnvoller, da sie sich automatisch an neue Prognosen anpasst.
Eine solche Indizierung käme dem nahe, was eine Versicherungsgesellschaft sinnvollerweise tun würde. Steigt die fernere Lebenserwartung, würden die Ab- und Zuschläge so automatisch sinken, und andersherum steigen, wenn die Lebenserwartung sinken würde.
Alexander Ludwig ist Programmdirektor „Macro Finance – Monetary Policy and Fiscal Stability“ am Research Center SAFE.