Alle Versicherer sind zurzeit auf der Suche nach Rendite

(Dieses Interview erschien im SAFE Newsletter Q3 2016)

Helmut Gründl ist Professor für Versicherung und Regulierung am House of Finance der Goethe-Universität Frankfurt und Geschäftsführender Direktor des International Center for Insurance Regulation. Zuvor war er an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Passau tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Versicherung und Risikomanagement, das Verhalten von Versicherungsnehmern sowie die Entscheidungsfindung bei der Finanzplanung, unter Berücksichtigung von biometrischen Risiken wie z.B. langfristigem Pflegerisiko.

Gemeinsam mit Martin Götz und Irina Gemmo arbeiten Sie gerade an einem Forschungspapier, das sich mit der vorzeitigen Kündigung von Lebensversicherungspolicen beschäftigt. Worum geht es Ihnen?
In einem ersten Schritt untersuchen wir Charakteristika von Versicherungsnehmern und Haushalten, die die Nachfrage nach liquiden Geldmitteln in bestimmten Lebensphasen beeinflussen. Denn Kündigungen von Lebensversicherungsverträgen sind üblicherweise auf einen dringenden Bedarf nach Liquidität zurückzuführen. Wir greifen auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels zurück, einer langjährigen Befragung von rund 11.000 deutschen Haushalten. Im Gegensatz zu anderen Studien, die in der Regel mit aggregierten Zahlen arbeiten, verfügen wir über Daten für jeden Haushalt, was es uns ermöglicht, das Alter des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der Kündigung zu berücksichtigen (siehe Grafik).

So haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Scheidung zu einer Policen-Kündigung führt, mit dem Alter des Paares steigt. Dies lässt sich erklären durch die Tatsache, dass Scheidungen mit zunehmendem Alter teurer werden. Die Geburt eines Kindes ist dagegen eher Anlass für eine Versicherungskündigung, wenn die Eltern sehr jung sind und es sich um das erste Kind handelt. Wir berücksichtigen natürlich auch andere Parameter wie Arbeitslosigkeit, Einkommen und den Erwerb von Wohneigentum, von denen bekannt ist, dass sie Kündigungsentscheidungen beeinflussen. Indem wir die Einflussfaktoren für Kündigungen bestimmten Altersgruppen zuordnen, ist es uns möglich, allgemeine Vorhersagen zu treffen über die Frage, wie der demographische Wandel die Kündigungsraten von Lebensversicherungen verändern wird.

 

Aggregierte Kündigungszahlen nach Alter des Haushaltsältesten. Die blaue Linie zeigt alle Vertragskündigungen, inklusive solche am Laufzeitende; die rote Linie zeigt nur Vertragskündigungen innerhalb der ersten elf Jahre des Haltens der Police.

Diese Ergebnisse sind sicherlich von Interesse für Versicherungsunternehmen.

Auf jeden Fall. Daher nehmen wir diese Ergebnisse im zweiten Schritt auch zur Grundlage für ein Mehr-Perioden-Shareholder-Value-Modell eines Lebensversicherungsunternehmens mit verschiedenen Investitionsoptionen. Unser Ziel ist es herauszufinden, welchen Einfluss Kündigungsentscheidungen auf das Investitionsverhalten des Unternehmens haben. Eine hohe Kündigungsrate könnte den Versicherer zum Beispiel davon abhalten, in langfristige Vermögenswerte zu investieren, die wichtig wären, um wesentliche Erträge zu generieren – insbesondere in Zeiten niedriger Zinsen.

Können hohe Kündigungsraten die Stabilität eines Versicherungsunternehmens ins Wanken bringen? Die Unternehmen preisen dieses Risiko doch sicherlich in ihre Angebote ein.

Mit Bezug auf Gewinne und Verluste besteht in der Tat kein wirkliches Stabilitätsrisiko, wenn man die üblichen Kündigungsabschläge bedenkt. Probleme können jedoch auf der Liquiditätsebene entstehen. Theoretisch kann sich das, was wir als „Bank Run“ kennen, auch im Versicherungssektor ereignen. Insbesondere vor dem Hintergrund des niedrigen bis negativen Zinsumfelds ist es nicht unvorstellbar, dass manch ein Lebensversicherer in finanzielle Engpässe gerät und dadurch Kunden das Vertrauen in ein Unternehmen oder gar die Branche als ganze verlieren. Ein anderes Risikoszenario wären steigende Zinsen nach einer Phase sehr niedriger Raten. Dies könnte eine große Zahl an Kunden, die Policen mit sehr niedrigen Garantiezinsen halten, zu einer Kündigung veranlassen, da sie anderswo bessere Konditionen bekommen. Als Massenphänomen würde dies zu Liquiditätsengpässen bei Lebensversicherern führen – und nicht nur bei diesen. Wenn mehrere Versicherer sehr schnell Vermögenswerte verkaufen müssen, könnte dies eine Abwärtsspirale bei den Wertpapierpreisen in Gang setzen und somit die Finanzmärkte und gesamte Volkswirtschaften in Mitleidenschaft ziehen.

Könnten Versicherungsunternehmen ihre Verträge anders gestalten, sodass Kündigungsraten verringert werden?

Eine grundsätzliche Möglichkeit, die Probleme mit sehr niedrigen oder sehr hohen Zinsen zu überwinden, wäre, die Garantiezinsen allgemein zu reduzieren. Das mag paradox klingen, aber es würde alle Parteien besserstellen. Die Versicherer könnten ihre Verpflichtungen besser erfüllen, sodass das Risiko von Insolvenzen sinken würde; die Unternehmen bräuchten weniger Eigenkapital, um die Garantien zu sichern. Dadurch würde Eigenkapital frei für riskantere und langfristig ertragreichere Investitionen, wovon wiederum die Versicherungsnehmer in Form einer höheren Überschussbeteiligung profitieren würden. Allerdings lassen sich bestehende Verträge nicht mehr in dieser Weise umstellen. Ein solcher Wechsel ließe sich nur mit Neuverträgen einleiten. Das bedeutet, dass die Unternehmen noch für eine sehr lange Zeit weiterhin unter den Sünden der Vergangenheit leiden müssen…

… die besonders schmerzhaft sind im aktuellen Negativzinsumfeld.

Das ist richtig. Alle Versicherer sind derzeit auf der Suche nach Erträgen, die sie vor allem in langfristigen Anlagen, wie zum Beispiel Infrastrukturinvestitionen, zu finden versuchen. Das bringt uns zurück zu der Frage nach der optimalen Investitionsstrategie für Versicherer: Wie viele langfristige – aber illiquide – Vermögenswerte lassen sich halten, um die erforderlichen Erträge zu generieren, aber gleichzeitig über ausreichend liquide Mittel zu verfügen, um Vertragskündigungen auszuzahlen? Mit unserem Projekt adressieren wir dieses Problem, indem wir konkretere Hinweise auf die langfristige Entwicklung der Kündigungsraten geben sowie auf die daraus folgenden Kosten und Vorteile für die beteiligten Parteien.

Wie gehen die Regulierungsbehörden mit diesem Problem um?

Für die Versicherungsregulierung ist es eine Frage der Abwägung. Unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes beobachten wir die Tendenz, Verbrauchern die Kündigung ihrer Policen jederzeit zu erlauben und ihnen erhebliche Kündigungswerte zuzugestehen. Während dies sicherlich zum Teil berechtigt ist, wenn man an die unvorhersehbaren Lebenslagen denkt, in denen jemand dringend Bargeld benötigt, wird ein anderer Aspekt oft vergessen: Indem man den einen Verbrauchern große Freiheiten bei der Kündigung einräumt, schadet man den anderen, die an ihren Verträgen zum Zweck der Altersvorsorge festhalten. Diese verlieren die Illiquiditäts-Prämien, die sich erreichen ließen, wenn die Versicherer eine langfristige Investitionsstrategie verfolgen könnten.

Ist eine Lebensversicherungs-Police eigentlich immer noch ein empfehlenswertes Anlageprodukt?

Auf jeden Fall. Es gibt keine andere Möglichkeit, das Risiko eines langen Lebens, bzw. des Überlebens des eigenen Vermögens, abzusichern. Das gleiche gilt für das Sterberisiko, das sich mit einer Risikolebensversicherung abdecken lässt. Ich nehme an, dass sich die Lebensversicherer langfristig auf diese beiden Kernbereiche ihres Geschäfts konzentrieren werden.