Der ehemalige italienische Ministerpräsident und Europareferent fordert einen Rahmen für den europäischen Binnenmarkt durch das Europäische Parlament, der die demokratischen Werte der Union widerspiegelt und allen EU-Bürger:innen dient. Diese sollten auch an seiner Gestaltung mitwirken können. Rund 150 Interessierte kamen am 7. Mai auf den Campus Westend, um Enrico Lettas Einschätzung zur europäischen Kapitalmarktunion zu hören. Die Veranstaltung organisierte das Leibniz-Institut SAFE zusammen mit dem Berliner Jacques Delors Centre.
Im anschließenden Gespräch mit Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der Wirtschaftskorrespondentin der französischen Tageszeitung Le Monde, Cécile Boutelet, wurde deutlich, dass Europa stärker zusammenarbeiten muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Den europäischen Bürger:innen müsse klar sein, wie die anstehende Transformationfinanziert werde und welchen Nutzen das Projekt Kapitalmarktunion bringt. Auch Nagel sagte, dass die Mitgliedsstaaten auf Kompetenzen verzichten sollten, um ein stärkeres Europa zu schaffen.
Die fünfte Freiheit
Letta hatte acht Monate in Europa im Auftrag der Europäischen Kommission recherchiert, um den Zustand der Kapitalmarktunion zu analysieren. In seinem Bericht „Much more than a market – Speed, security, solidarity“ betont er, wie wichtig es sei, den Binnenmarkt weiter zu harmonisieren. Insbesondere in den Bereichen Energie, Kommunikationsnetze und Finanzdienstleistungen müsse europaweit grenzübereschreitend agiert werden. Europa müsse eine „fünfte Freiheit“ schaffen, die Forschung und Innovationen ermögliche. Die derzeitigen „Einbahnstraßen“ von strukturell schwächeren Staaten im Süden und Osten zu fortgeschritteneren im Norden und Westen müssten durchbrochen werden. So könnten die Finanzierung und Innovationen in Transformationsprozessen und globale Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden.
Bundesbankpräsident Nagel stimmte zu: „Weniger Integration ist keine Option“, sagte er. „Ich hoffe, dass das nach der Europawahl nicht vergessen wird.“ Skeptisch äußerte er sich zu Subventionen und Staatshilfen für einen stärkeren Binnenmarkt. Diese sollten die Ausnahme bleiben, wie beispielsweise während der Coronakrise. Die EU-Mitgliedsstaaten müssten mehr Kompromissbereitschaft zeigen, verdeutlichte Nagel am Beispiel des Insolvenzrechts: 27 verschiedene Gesetze in Europa bedeuteten unnötige bürokratische Hürden. Mehr Integration wünsche er sich auch im Bankensektor.
Am Beispiel der digitalen Infrastruktur zeigte Letta, warum die Dimensionen von Unternehmen entscheiden: Europäische Anbietende wurden bei der Entwicklung hin zum Smartphone abgehängt, da es ihnen an Schnelligkeit und Größe mangelte. „Wir hinken hinterher“, sagte der Ökonom angesichts der wachsenden Marktmacht Chinas und der USA. Auch in Europa seien starkeGroßunternehmen wichtig.
Das bedeute nicht, dass die unternehmerische Vielfalt in den einzelnen Mitgliedsstaaten geopfert werden müsse. Auch kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-ups profitierten davon, wenn es einfacher werde, an Geld zu kommen: „Die Kapitalmarktunion ist nicht nur Finanzierung für Finanzmarktakteure“, sagte er.
Letta betonte, die EU müsse glaubhaft vermitteln, dass die Transformation zu einer grünen und digitalisierten Wirtschaft finanzierbar sei. Derzeit zeige sich die Skepsis der EU-Bürger:innen bei den Bauernproteste sowie der Abwanderung von Start-ups in die USA. Auch Nagel betonte, dass Europa, etwa in Fragen der IT-Infrastruktur, zu abhängig von anderen Ländern sei und damit seine Resilienz und Sicherheit beeinträchtige.