SAFE Finance Blog
11 Dec 2020

Der schmale Grat der EZB-Strategieprüfung

Ignazio Angeloni: Die Europäische Zentralbank muss liefern, darf dabei aber keine falschen Signale senden. Allzu ambitionierte Inflationsziele gilt es ebenso zu überdenken wie verhärtete Strategien in der Geldpolitik

Die Erwartungen an die EZB und das Ergebnis der Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie steigen. Eine akademisch besetzte Paneldiskussion, die die EZB am 11. November 2020 online veranstaltete, konzentrierte sich auf den Kernpunkt des Themas: das mangelnde Verständnis der Inflation eine Variable, von der das Mandat der EZB abhängt, die aber immer schwieriger zu erklären und zu kontrollieren ist. Seit mehreren Jahren liegt die Inflation unter der Zielvorgabe der Zentralbank von „nahe bei, aber unter zwei Prozent“.

Eine Rückbesinnung auf die Geschichte hilft, das Inflationsziel in den richtigen Kontext zu stellen. 1998 kündigte die neu gegründete EZB eine Strategie an, um zu erläutern, wie sie ihr Preisstabilitätsmandat erreichen will. Das Ziel wurde auf eine Inflationsrate von unter zwei Prozent festgelegt. Die Entscheidung beruhte vor allem auf Kontinuität, was letzten Endes der damals gängigen Praxis in Europa entsprach. Es zeigt, dass die Zielmarke und das ihr vorangestellte Wort „unter" aus einer Welt übernommen wurden, in der das vorrangige Anliegen darin bestand, die Inflation niedrig zu halten und in der die Möglichkeit einer Deflation nicht ernsthaft in Betracht gezogen wurde.

Unerwünschte Folgen der Inflationspolitik

In den ersten Jahren des Euro herrschte inflationärer Druck, wenn auch gedämpft. Im Jahr 2003 stellte die EZB klar, dass das Ziel „nahe bei“ zwei Prozent liegen sollte, und nicht irgendwo „unterhalb“ dieses Niveaus. Es wurden mehrere Argumente vorgebracht, aber der Auslöser dieser Änderung war im Grunde zufällig: Die gemessene Inflation wurde damals tendenziell von Energie- und Lebensmittelpreisen in die Höhe getrieben. Die EZB betrachtete das als relative Preisänderungen, denen die Geldpolitik Rechnung tragen sollte. Diese Einschätzung erwies sich als richtig: Dieselben Preise trieben die Inflation daraufhin in die entgegengesetzte Richtung.

Allerdings hatten die Revision und die Tatsache, dass das „unterhalb“ beibehalten wurde, zwei unerwünschte Folgen: Erstens wurde die zulässige Spanne eingeschränkt und die wahrgenommene Asymmetrie der EZB-Politik verschärft. Zweitens führte das zur Bestätigung des Bildes der EZB als Inflationsbrecher, und nicht als eine Zentralbank, die versucht, die Abweichungen der Inflation vom gewünschten Niveau in beide Richtungen gleichermaßen zu begrenzen.

Das Problem trat nach der Finanz- und Eurokrise in den Jahren 2009 bis 2011 noch deutlicher zutage. In vielen der darauffolgenden zehn Jahre blieb die Inflation im Euroraum — zuletzt deutlich — unter dem Referenzwert. Aufeinanderfolgende Wellen der monetären Expansion haben es nicht geschafft, die Inflation zu erhöhen. Auch wenn es keine Kontrollgruppe gibt, lässt es sich nicht ausschließen, dass die Versuche der EZB die Wirtschaft wieder anzukurbeln, durch diese Wahrnehmung vereitelt wurden. Im Jahr 2020 verschärfte die Covid-19-Pandemie und der damit verbundene Zusammenbruch der Energiepreise die unangenehme Mischung aus einer noch niedrigeren Inflation und einer stärkeren monetären Expansion.

Zwei Interpretationen des EZB-Kurses

Es gibt zwei Interpretationen des EZB-Kurses, jede mit einer anderen politischen Rezeptur. Die eine fordert die expansive Geldpolitik noch weiter hochzufahren. Dabei geht man davon aus, dass das Ziel irgendwann erreicht wird, und schlägt vor, dass die EZB ihre Entschlossenheit signalisieren sollte, indem sie das Inflationsziel anhebt. Die andere Interpretation gibt vor, dass die monetäre Expansion an Kraft verloren hat, hauptsächlich aufgrund von Veränderungen der Preisdynamik auf globaler Ebene und dass die negativen Nebenwirkungen zugenommen haben. Diese Ansicht erfordert eine Neuausrichtung des EZB-Kurses und wird durch die Tatsache gestützt, dass die gemessene niedrige Inflation im Euroraum zuletzt von importierten Preisen beeinflusst wurde, während die inländischen Inflationskomponenten gestiegen sind. Diese beiden Argumente sorgen für eine interessante Debatte. Leider muss die EZB eine Entscheidung treffen, bevor es zu einer Einigung kommt.

Die Überprüfung bietet eine überfällige Gelegenheit, die unerwünschte Asymmetrie der Geldpolitik der EZB zu beseitigen. Zu diesem Zweck muss das Wort "unterhalb" verschwinden und durch einen zentralen Referenzwert ersetzt werden, begleitet von einer angemessenen symmetrischen Toleranzmarge. Hier endet jedoch der leichte Teil und der schwere beginnt. Die EZB befindet sich auf einem schmalen Grat mit Gefahren zu beiden Seiten. Einerseits sollte sie keine Straffung der Geldpolitik signalisieren, die unter eingängigen Szenarien unangemessen wäre. Andererseits sollte sie sich auch nicht zu sehr auf die entgegengesetzte Richtung festlegen, indem sie ehrgeizige Inflationsziele ansetzt, die für sie nur schwer zu erreichen sind. Das Risiko bestünde auch dann, wenn sie die Art des kürzlich von der Fed angekündigten „durchschnittlichen Inflationsziels“ übernehmen würde, welches ein implizites Versprechen enthält, die Inflation in Zukunft über das Ziel hinaus anzuheben. Verpflichtungen oder Versprechungen dieser Art wären schwer zu glauben, und selbst wenn man ihnen zu Beginn Glauben schenken würde, wären sie mit erheblichen Risiken für die künftige Reputation verbunden.

Um effektiv und nachhaltig zu sein, sollte die geldpolitische Strategie der EZB neutral und blind gegenüber dem Konjunkturverlauf sein. Sie muss einen Rahmen für das Treffen und Erklären von Entscheidungen bilden, der über aktuelle Eventualitäten und die gegenwärtige Phase des Wirtschaftszyklus hinaus gültig ist. Die von der EZB angekündigte Kombination von Schwerpunkt- und Toleranzmargen schließt zwar sicherlich eine negative Inflation aus, kann aber durchaus niedrige positive Inflationsniveaus ermöglichen, wenn sie nachhaltig sind, so wie es in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Ein zentrales Inflationsziel von zwei Prozent, umgeben von einer Toleranzmarge von plus oder minus ein Prozent würde beispielsweise ausreichen.

Die EZB dehnt ihre Prioritäten aus

Bei der Überprüfung ihrer gelpolitischen Strategie sollte sich die EZB jedoch nicht auf die Anpassung des Inflationszielrahmens beschränken. Zwei Bereiche, die sowohl in der ursprünglichen Strategie als auch in der Überprüfung von 2003 übersehen wurden, haben in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen: die Festlegung politischer Ziele und die Zusammenarbeit mit anderen politischen Entscheidungsträgern — vor allem mit der Exekutive. Verwandt, aber dennoch verschieden, haben die beiden Bereiche an Bedeutung gewonnen, da zuletzt neue gesellschaftliche Prioritäten entstanden sind, zu denen Zentralbanken einen Beitrag leisten sollen. So hat die EZB beispielsweise kürzlich auf eine mögliche Beteiligung an der Bekämpfung des Klimawandels hingewiesen. Nach der gleichen Logik könnte prinzipiell die Bekämpfung von Pandemien ein weiterer Bereich ihrer Mitwirkung sein.

Die EZB vertritt traditionell die Auffassung, dass die Zusammenarbeit mit den Regierungen in der Geldpolitik ihre Unabhängigkeit gefährden würde. Sie argumentiert auch, dass anderen politischen Zielen, die zwar im EU-Vertrag vorgesehen sind, aber der Gewährleistung der Preisstabilität untergeordnet sind, am besten gedient ist, wenn sich die Zentralbank nur auf ihr vorrangiges Ziel konzentriert. Drei Änderungen seither legen ein Überdenken nahe. Erstens: 20 Jahre der Ausübung ihres Mandats haben den Ruf der EZB gestärkt und ihre Unabhängigkeit bestätigt. Zweitens hat die EZB vor kurzem die Verantwortung für die Bankenaufsicht und die Finanzstabilität übernommen und damit Bereiche, die enger mit einem breiteren Spektrum gesellschaftlicher Anliegen verbunden sind. Drittens hat sich die Natur der Herausforderungen weiterentwickelt, so dass die EZB die von der EU ergriffenen Maßnahmen gelegentlich ergänzen muss. Die Maßnahmen, die in der Union zur Bekämpfung der Coronakrise ergriffen wurden, sind das jüngste Beispiel.

Die Zusammenarbeit mit der EU-Exekutive – unter der Voraussetzung, dass die Zusammenarbeit nicht angeordnet werden kann, sondern von der EZB selbst in Ausübung ihres eigenen Mandats autonom bestimmt wird – sollte keine Bedrohung für ihre Unabhängigkeit darstellen. Im Gegenteil, die mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit in größeren Krisen kann die Opposition gegen die Unabhängigkeit der EZB verstärken. Um innerhalb des richtigen Rahmens zu bleiben, können jedoch gewisse Schutzmaßnahmen erforderlich sein. Es obliegt der EZB, als Teil ihrer Strategie den geeigneten Rahmen für die Zusammenarbeit festzulegen. In diesem Zusammenhang könnten natürlich die Zulässigkeit „sekundärer“ Ziele sowie die Modalitäten und Grenzen ihrer Verfolgung durch die Zentralbank festgelegt werden.


Dieser Beitrag wurde zuerst über das Portal VoxEU in englischer Sprache veröffentlicht.

Ignazio Angeloni ist Senior Policy Fellow am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE und Senior Fellow an der Harvard Kennedy School.

Blogbeiträge repräsentieren die persönlichen Ansichten der Autoren und nicht notwendigerweise die von SAFE oder seiner Mitarbeiter.