19 May 2021

Die Coronakrise stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe

Die erste „Frankfurter interdisziplinäre Live-Debatte“ beschäftigt sich mit der Solidarität der Menschen in Zeiten von Covid-19 und danach – und offenbart einige Konfliktlinien

Mit der Coronapandemie erlebt die Menschheit eine Krise, in der das Konzept der Solidarität Hochkonjunktur hat. Politisch wie gesellschaftlich viel beschworen, geht es dabei um die Bereitschaft, dass jede und jeder Einzelne für ein Kollektiv einsteht, dem sie oder er sich verbunden fühlt. Gerade in Krisenzeiten bringt das eine Reihe von Belastungen und Kosten mit sich, die nicht alle gleichermaßen tragen. Daraus entstehen wiederum Solidaritätswidersprüche, über deren akute und langfristige Folgen bei der ersten interdisziplinären „Frankfurter Live-Debatte“ gesprochen wurde. 

Ursprünglich als Blog mit Beginn der Coronapandemie im Frühjahr 2020 gestartet, wird der akademische Austausch der „Frankfurter interdisziplinäre Debatte“ nun als Serie von Podiumsdiskussionen fortgeführt, die das Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE, das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), der Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt sowie das Exzellenzcluster „Cardio-Pulmonary Institute“ (CPI) gemeinsam organisieren. Die erste Veranstaltung dieser Art markierte die Debatte um die „Zukunft der Solidarität“, worüber sich ein fünfköpfiges Panel unter Moderation von Hörfunk-Journalistin Doris Renck am 12. Mai 2021 auseinandersetzte.  

In seinem Eröffnungsstatement erklärte Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität sowie Sprecher von „Normative Ordnungen“, dass Krisen Hochzeiten der Solidarität seien, in denen sich zeige, wie stark die individuelle Verbundenheit mit anderen trägt: „Die Coronakrise ist zweifellos so ein Test“. Der Solidarität folge jedoch oft ein Schatten des Unsolidarischen. Keine Gesellschaft könne sich wirklich solidarisch nennen, wenn sie die Not anderer ignoriere. Zwar gebe es keine natürliche Definition der Solidargemeinschaft, wohl aber Reflexe, mit denen auf Krisen reagiert werde. Besorgniserregend sei dabei, dass die Coronapandemie eine globale Krise ausgelöst habe, „aber die Reflexe, sich national retten zu wollen, gleichzeitig sehr stark sind“, so Forst weiter. Auf Krisen müsse in transnationaler Aktion reagiert werden. 

„Binnensolidarität“ in Abgrenzung zu anderen Gruppen

https://youtu.be/hqPsLS4F6iI

Globale Achtsamkeit lasse sich tatsächlich reproduzieren, pflichtete HSFK-Leiterin Nicole Deitelhoff bei. Zumal Individuen und Gesellschaft ihre Achtsamkeit nicht nur sich selbst und dem Nationalstaat schuldeten, sondern auch darüber hinaus. Allerdings hielt die Politikwissenschaftlerin bei dem Zusammenhang von Solidarität und Krisen dagegen: „Wir sehen eine Hochzeit der Solidaritätsaufrufe, der Appelle, aber nicht unbedingt eine Hochzeit der Solidarität als solcher, das haben wir meistens am Anfang von Krisen.“ In so einer Situation zeige sich das Gemeinschaftsgefühl immer mehr als „Binnensolidarität“: „Wir sind vor allem solidarisch mit denen, denen wir nahestehen, und grenzen uns damit von anderen Gruppen ab.“ 

Widersprüchlich sei dabei vor allem, dass Solidarität da, wo sie am meisten benötigt werde, nicht so empfunden werde und dort, wo sie am geringsten benötigt werde, als sehr stark empfunden werde. „In den oberen sozioökonomischen Schichten, die geringere Probleme mit den Folgen der Pandemie haben, herrscht das Gefühl, dass die Solidarität mit der Zeit eher angestiegen ist“, so Deitelhoff, „schauen wir in die unteren sozioökonomischen Schichten, sehen wir genau das Gegenteil.“ Solidarität sei also nichts, was sich von oben verordnen oder per Gesetz erzwingen lasse. 

Der Jurist Klaus Günther stellte auf das komplizierte Verhältnis von Solidarität und Recht ab und sprach in diesem Zusammenhang von „gesamtschuldnerischer Haftung“. Risiken durch gemeinschaftliches Handeln minimieren zu können, sei ein Vorteil der Solidarität. Die lasse sich aber „nicht um jeden Preis fordern, sondern nur wenn es zumutbar ist“, so Günther. Für eine Rechtsordnung sei das nur begrenzt möglich; zumal sich diese Grenze auch nicht absolut festlegen lasse. „Die Bundesnotbremse zeigt, dass sich bestimmte Handlungsweisen erzwingen lassen“, führte Günther aus. Hingegen beruhe gesamtgesellschaftliche Solidarität auf Freiwilligkeit, „nicht nur wenn die Menschen Sanktionen zu befürchten haben.“  

„Wie weit unterscheidet sich Solidarität von Eigennutz?“ 

Dass in Deutschland das Gesundheitssystem noch funktioniere, sei zum Beispiel Ausdruck einer ungeheuren Solidarleistung, die auf einer großen Solidargemeinschaft beruhe, sagte Günther weiter. Die Zukunft bringe insbesondere Abwägungsprobleme mit sich, etwa ob mehr Geld in das Gesundheitswesen fließen und dabei in anderen Bereichen abgezogen werden solle. 

„Forschung ist teuer“, warf die Naturwissenschaftlerin und CPI-Sprecherin Stefanie Dimmeler ein und erklärte damit auch die Bedeutung von Patenten wie bei Impfstoffen, über deren zeitweise Freigabe zuletzt international gestritten wurde. In diesem Punkt müssten andere Wege der Solidarität gefunden werden, wie zum Beispiel durch Spendenaktionen in Kombination mit einer günstigeren Ausgabe von Vakzinen. Es sei utopisch zu glauben, dass hochentwickelte Technologien wie die Impfstoffherstellung an beliebigen Standorten aus dem Boden gestampft werden könnten. Um für künftige Krisen besser aufgestellt zu sein, „brauchen wir bessere Datengrundlagen“, so Dimmeler. So gebe es noch zu wenig Information darüber, ob das Risiko einer Corona-Infektion in einem Hotel oder einer Gaststätte wirklich so hoch sei. Die Datenerhebung werde hierzulande noch kleinteilig angegangen, „es müsste globaler gedacht werden“.  

Grenzüberschreitendes Handeln müsse sich zudem an der Fähigkeit messen lassen, Kollektivgüter zu erzeugen, befand SAFE-Direktor Jan Krahnen. Das Entstehen solcher Güter sei immer auch mit der Frage verbunden: „Wie weit unterscheidet sich Solidarität von Eigennutz?“ Zwar werde der kostengünstigste Weg durch die Krise als solidarisch bezeichnet. Um jedoch für die dafür nötigen, enormen Investitionen aufzukommen und die schwierige Herstellung von Kollektivgütern zu meistern, brauche es nicht nur ein kluges Prozessdesign, sondern auch „klugen Eigennutz“, so Krahnen. Da die nächsten Krisen ebenso unerwartet und heftig kommen würden wie die Coronapandemie, müsse die Fähigkeit optimiert werden, angesichts maximaler Unsicherheit kreativ zu handeln: „Wir müssen agil, schnell, innovativ und forschend sein.“ 


Das Video zur Veranstaltung findet sich hier