Es war ein Paukenschlag für Europas Finanzmärkte: Die Euro-Bankenaufsicht hat ihrer Forderung nach einem Ausschüttungsverzicht für Kreditinstitute Nachdruck verliehen. Der Appell des unter der EZB angesiedelten „Single Supervisory Mechanism“ (SSM) als Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise galt seit dem Frühjahr zunächst bis 1. Oktober und dann bis Ende 2020. Inzwischen haben die Aufseher kommuniziert, dass ab Anfang 2021 unter strengen Bedingungen und zeitlich begrenzt wieder Dividendenausschüttungen möglich sein sollen. Solche Auszahlungsbeschränkungen mögen auf den ersten Blick zwingend erscheinen – ein zweiter Blick zeigt aber, dass sie Marktkräfte schwächen und damit eine Grundüberzeugung der Bankenunion in Frage stellen.
Zunächst ist der Gedanke der Euro-Bankenaufsicht nachvollziehbar, nach den Erfahrungen der Finanzkrise von 2008/2009 und der derzeitigen, durch die Corona-Krise bedingten wirtschaftlichen Unsicherheit in Europa, einen Dividendenverzicht auszusprechen, um so das Kapital als Puffer bei den Kreditinstituten zu halten. Insbesondere soll vermieden werden, dass die Eigentümer vor der nächsten größeren Belastung, wie sie im Zuge der Corona-Krise sicherlich nicht unwahrscheinlich ist, dann dringend benötigte Gelder aus den Banken abziehen und sie an die Aktionäre verteilen. Den Banken würde genau dann frisches Geld fehlen, wenn sie am dringlichsten darauf angewiesen sind. Diese Ansicht ist insbesondere unter kritischen Bankbeobachtern sehr verbreitet und findet wohl auch Unterstützung in der breiteren Öffentlichkeit.
Allerdings gibt es hier einen Pferdefuß: So vordergründig positiv die kurzfristige Wirkung eines Dividendenstopps sein mag – mehr Geld in der Kasse und breite Zustimmung in der Bevölkerung –, so hintergründig negativ kann diese Maßnahme aber längerfristig werden. Warum?
Vertragstreue als Garant für den heimischen Finanzplatz
Problematisch an diskretionären Politikmaßnahmen wie dem verhängten Dividendenverzicht ist, dass sie langfristig die Markterwartungen an das Eigenkapital von Banken und Versicherern grundlegend verändern und damit unter Umständen auch Investitionen an den europäischen Finanzmärkten verringern oder ganz verhindern. Das Ausschüttungsverbot des SSM kann aus Furcht vor Wiederholung später sogar zu höheren Ausschüttungen führen und somit die eigentliche Intention der Aufsicht – die Eigenkapitalbasis der Kreditinstitute zu stärken – konterkarieren.
Mit anderen Worten: Eigenkapital, das dem Risiko ausgesetzt wird, sich eines Tages in einer Art Mausefalle wiederzufinden, wird am Markt geringer bewertet, die Kapitalkosten der betroffenen Firmen steigen und die Möglichkeit, zukünftig neue Eigenkapitalgeber zu finden, verschlechtert sich. Insbesondere ist es dann so gut wie ausgeschlossen, in einer Krisensituation neues Eigenkapital aufzunehmen. Mehr noch: Ein unvermittelter Eingriff in das Ausschüttungsrecht der Aktionäre bricht nicht nur die ursprüngliche Vertragsgrundlage am Kapitalmarkt, es sät auch Zweifel darüber, welche weiteren Regeln nachträglich einseitig geändert werden könnten, wenn es nur den Applaus von Politik und Öffentlichkeit findet.
Pact sunt servanda – Vertragstreue ist ein entscheidender Grundpfeiler der Funktionsfähigkeit von Finanzmärkten. Wer die Vertragstreue aufhebt, der begeht nicht nur einen Rechtsbruch im internationalen Privatrecht, sondern gibt auch konkurrierenden Finanzplätzen einen positiven Schub – natürlich zu Lasten des heimischen Finanzplatzes. Das aber kann auch politisch nicht gewollt sein. Deswegen ist nur zu warnen vor jeder Form eines einseitigen Ausschüttungsstopps, der später teuer zu bezahlen ist, wenn der ruinierte Ruf unter internationalen Anlegern und Pensionsfonds aus der ganzen Welt über lange Jahre wieder aufgebaut werden muss.
Eine stärkere Abwicklungsbehörde als Alternative zum Ausschüttungsverbot
Das wichtigere Signal der Aufsicht an die Märkte wäre es, an von vornherein vorgegebenen ordnungspolitischen Strukturen so festzuhalten, dass mit den existierenden Möglichkeiten der EU-Sanierungs- und Abwicklungsrichtlinie eine Konsolidierung vor allem des Bankensektors möglich ist. Wenn von Anfang an klare Verhältnisse gelten und auf diskretionäre Eigentumseingriffe gerade in Krisenzeiten verzichtet wird zugunsten von Rechtssicherheit und Vertragstreue, besteht für die Zukunft auch nicht der Generalverdacht, dass nach Belieben neue Regeln aufgestellt werden.
Das Argument der Rechtssicherheit und Vertragstreue ist ein klassisch ordnungspolitischer Gedanke, um Eingriffe in das Eigentumsrecht zu vermeiden. Dieser Gedanke lässt sich sehr gut europäisch umsetzen – und bietet dann eine Alternative zu dem Ausschüttungsverbot für Aktionäre: Indem unter dem Dach der Bankenunion die Abwicklungsbehörde „Single Resolution Board“ (SRB) gestärkt wird. Bei strikterer Einhaltung der SRB-Regeln wären Kreditinstitute gezwungen, die Beteiligungen ihrer Anleger – und damit im Ernstfall auch ihrer Gläubiger – in guter Qualität zu halten. Damit würde das seit Jahren notorische dünne Eigenkapitalpolster europäischer Banken angefüttert und eine ordnungspolitische Struktur eingezogen, die den Bankensektor an Stellen, wo es nötig ist, vernünftig schrumpfen lassen würde. Diese Struktur verspricht zudem langfristige Tragfähigkeit.
Marktaustritte als Fortschritt im Bankensektor
Die seitens der Aufsicht vorgetragene Begründung für das Ausschüttungsverbot übersieht weiter, dass eine exzessive Dividendenpolitik die Finanzierungskosten für sogenanntes Bail-in-Kapital, d.h. nachrangiges Fremdkapital, entsprechend erhöht und deshalb – unter der Voraussetzung, dass Banken heute mehr derartiges Nachrangkapital halten müssen als je zuvor – eine überhöhte Dividendenzahlung unmittelbar die Finanzierungskosten der Bank erhöht. Der Nettovorteil einer Ausschüttung ist dann klein oder überhaupt nicht vorhanden.
Abschließend ist auf einen Nebeneffekt möglicher Bankenaustritte hinzuweisen – ein Nebeneffekt, der den Kritikern des gewinnschwachen europäischen Bankensystems nur willkommen sein kann: Marktaustritte bedeuten in einem Sektor, der ohnehin unter dem „Overbanking“-Phänomen leidet, eine Erleichterung, stellen einen Fortschritt und nicht unbedingt eine Gefahr dar.
Gerade den Bankensektor auf nationaler Ebene mit staatlichen Hilfen abzuschotten widerspricht den Erfahrungen aus bisherigen Krisen und letztlich auch dem europäischen Kerngedanken. In anderen Sektoren wie etwa im Maschinen- und Automobilbau haben wir nationale Abschottungen schon lange hinter uns gelassen. Kurzum: Der Ausschüttungsverzicht, wie ihn die Euro-Bankenaufsicht festgelegt hat, kann langfristig schädlich werden. Der Markt, seine Spielregeln und Mechanismen sollten nicht ohne Not geändert werden, auch wenn es in Krisenzeiten opportun scheint.
Jan Pieter Krahnen ist Professor für Finance an der Goethe-Universität Frankfurt und wissenschaftlicher Direktor von SAFE.
Dieser Beitrag wurde zuerst am 16. November 2020 in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht und hier am 16. Dezember 2020 aktualisiert.