SAFE Finance Blog
23 Aug 2018

TARGET-Salden sind kein eigenständiger Risikofaktor

Jan Pieter Krahnen: TARGET-Ungleichgewichte sollten nicht begrenzt werden, sondern könnten eine institutionelle Reform der Eurozone erfordern

Die grenzüberschreitende Organisation von Zahlungen in einem Währungsraum ist eine komplexe Aufgabe. Das TARGET-System erfüllt diesen Zweck: Es ist eine Infrastruktur, die von dem System der europäischen Zentralbanken seit 1999 für die schnelle und reibungslose Abwicklung internationaler Geldtransfers angeboten wird. Das System besteht in seiner jetzigen Form seit 2007 (TARGET2).

Wiederholt wurde das TARGET-System aufgrund exzessiver Ungleichgewichte, insbesondere in Deutschland, kritisiert. Tatsächlich hat die Deutsche Bundesbank derzeit einen Anspruch gegenüber dem Eurosystem in Höhe von über 900 Milliarden Euro. Andere Länder schulden dem System Hunderte von Milliarden. Kritiker behaupten, dass sich diese Länder über TARGET unbegrenzt verschulden können, wodurch ein unkalkulierbares Risiko entstehe und Deutschland zu einer Art "Selbstbedienungsladen" der Eurozone geworden sei. Die Kritiker fordern politisches Eingreifen: Der TARGET-Mechanismus sollte einen Saldenausgleich vorschreiben. Die Frage ist daher, ob die TARGET-Bilanzen wirklich einen eigenständigen Risikofaktor darstellen. Meine Antwort ist: nein.

Anzeichen für wirtschaftliche Verschiebungen im Euroraum

Im TARGET-System werden Zahlungen von Kontoinhabern eines Landes an Zahlungsempfänger anderer Länder gebündelt und über die Zentralbank des Empfängerlandes an den Endbegünstigten weitergeleitet. Auf den verschiedenen Zentralbankkonten entstehen dadurch täglich Überschüsse oder Defizite. Der Saldo ist die Summe von Nettotransfers vieler verschiedener Grundgeschäfte über mehrere Jahre hinweg und kann somit nicht einzelnen Transaktionen zugeordnet werden. Folglich ist eine Identifizierung der "Ursache" eines TARGET-Saldos extrem schwierig. Da die Summe der TARGET-Salden aller teilnehmenden Länder immer Null ist, kann man langfristige positive und negative Salden als Indikator oder Symptom anhaltender Vermögensverschiebungen zwischen Ländern interpretieren. Dies können Investitionen in Kapitalgüter, Warenhandel, Tourismus, Kapitalflucht oder das Nebenprodukt einer konventionellen oder unkonventionellen Geldpolitik sein. Nicht zuletzt können sie die Rolle von Orten und Ländern als Finanzzentren der Eurozone widerspiegeln. In einer Währungsunion im Normalbetrieb sind die TARGET-Salden daher lediglich Verrechnungssalden ohne weitere Implikationen, die aber nützliche Informationen über ökonomisch tiefer liegende, regionale Verschiebungen liefern können.

Wenn die TARGET-Salden nun Symptome lang anhaltender wirtschaftlicher Verschiebungen zwischen Regionen sind, wie nützlich ist dann eine Begrenzung ihrer Höhe? Ein jährlicher Ausgleich durch Zentralbanken mit negativen TARGET-Salden, die Staatsanleihen als Sicherheit verwenden, würde nur eine Form der Staatsschuld gegen eine andere tauschen. Eine ökonomisch sinnvolle Therapie sollte sich vielmehr auf die zugrundeliegenden ökonomischen Probleme konzentrieren, die zu diesen Verschiebungen und Ungleichgewichten zwischen den Regionen beigetragen haben.

Dennoch könnten die Kritiker in einem Punkt Recht haben, nämlich wenn es zu dem Extremfall eines Zerfalls der Währungsunion kommen würde. Auch wenn ein solches Szenario in all seiner Komplexität nur schwer vorstellbar ist und aus diesem Grund wahrscheinlich nie eintreten wird, könnte das derzeitige TARGET-System tatsächlich Anreize zu moral hazard für Exit-Länder bieten. Eine solche negative Auswirkung würde sich ergeben, wenn die Zentralbank des Landes willentlich Geld schöpfen würde und anschließend damit ausländische Vermögenswerte finanziert. Dadurch würde ein TARGET-Guthaben entstehen, den das Land nach dem Austritt aus der Eurozone möglicherweise nicht begleichen würde.

Glücklicherweise könnte ein solches Trittbrettfahren durch eine einfache Reform der Eurozone und eine Stärkung ihres Modus Operandi vermieden werden: Wenn alle Offenmarktaktivitäten durch die EZB statt durch die nationalen Zentralbanken erfolgen würden, verschwänden die TARGET-Salden insgesamt. Alternativ könnte man den Anspruch einer jeden Zentralbank auf einem gemeinsamen Offenmarktkonto bei der EZB immer wieder neu ausbalancieren, ähnlich wie es bei den regionalen Salden im US-Fedwire-System gehandhabt wird. Auch in diesem Fall würden die TARGET-Salden verschwinden.

Eine Stärkung der Architektur des Eurosystems könnte deshalb die richtige Antwort auf ihre größten Kritiker sein – und zugleich den inneren Zusammenhalt der Währungsunion verbessern.


Jan Pieter Krahnen ist Professor für Finance an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des LOEWE-Zentrums SAFE.

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