Die Umsetzung von supranationalen Regulierungen in den Mitgliedstaaten Europas bietet den nationalen Behörden oft einen erheblichen Ermessensspielraum und somit auch Spielraum für einen laxeren Umgang mit den Vorschriften. Greifen nationale Behörden so Banken bei strengeren supranationalen Vorgaben unter die Arme? In einem SAFE Working Paper untersuche ich die Reaktion der nationalen Behörden auf eine plötzliche und erhebliche Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen an Kreditinstitute, die von der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde („European Banking Authority“, EBA) im Jahr 2011 auferlegt wurde.
Um den Ermessensspielraum nationaler Behörden zu überprüfen, konzentriere ich mich auf das haftungsfähig Eigenkapital einer Bank, das sich vom Eigenkapital in den Büchern unterscheidet und daher ein ideales Testfeld bietet, um das komplizierte Zusammenspiel zwischen supranationalen Regeln und nationaler Umsetzung zu untersuchen. Die Regeln zur Definition des haftungsfähigen Eigenkapitals beinhalten eine Fülle von Instrumenten und eröffnen einen erheblichen Spielraum zur Manipulation der Kapitalquoten von Banken. Nationale Behörden könnten daher die Bemühungen von Banken haftungsfähiges Eigenkapital „aufzublähen“ unterstützen, indem sie nachsichtig bei der Regulierung sind.
Um die Kapitalinflation zu bestimmen, wird das Verhältnis des haftungsfähigen Eigenkapitals zum Buchkapital verwendet, also der Betrag des haftungsfähigen Eigenkapitals, den eine Bank pro Euro buchmäßigem Eigenkapital ausweist. Steigt dieses Verhältnis, deutet das darauf hin, dass das aufsichtsrechtliche Eigenkapital ohne einen entsprechenden Anstieg des Buchkapitals gestiegen ist.
Banken verlassen sich auf Ermessensspielräume bei der Berechnung ihres haftungsfähigen Eigenkapitals
Im Zuge der vorgeschriebenen Kapitalerhöhung von 2011 wurde die Mindestkapitalquote für das harte Kernkapital (Core-Tier-1-Kapital) für einen Teil der europäischen Banken von fünf Prozent auf neun Prozent hochgesetzt, während die Anforderungen für andere europäische Banken unverändert blieben. Für die Grundanalyse werden im SAFE Working Paper die Veränderungen des Verhältnisses von haftungsfähigem Eigenkapital und Buchkapital zwischen Banken verglichen, die an der Kapitalerhöhung 2011 teilgenommen haben, und solchen Banken, die nicht an der Kapitalerhöhung teilgenommen haben. Die Abbildung zeigt die Entwicklung dieses Verhältnisses im Vergleich zum Jahr 2010 für Banken, die an der Kapitalerhöhung teilnehmen, und für Banken, die nicht an der Kapitalerhöhung teilnehmen.
Vor der Kapitalerhöhung war das Verhältnis von haftungsfähigem Eigenkapital und Buchkapital für beide Gruppen von Banken stabil. Von 2010 bis 2012 haben die Banken, die an der Kapitalrunde teilnahmen, ihr haftungsfähiges Eigenkapital im Verhältnis zum Buchkapital jedoch deutlich erhöht, was eine erhebliche Reduzierung der Kapitalabzüge im Umfeld der EBA-Kapitalrunde impliziert. Im Gegensatz dazu blieb das Verhältnis bei den Banken in der Kontrollgruppe, die also nicht an der Kapitalrunde teilnahmen, unverändert. In Übereinstimmung mit dem Umstand, dass schwach kapitalisierte Banken einen stärkeren Anreiz haben, ihr Kapital aufzublähen, um die EBA-Kapitalrunde zu bestehen, werden diese Ergebnisse von Banken mit zuvor niedrigeren Kapitalquoten getragen.
Abbildung: Das Verhältnis von haftendem Eigenkapital zu Buchkapital im Zeitverlauf
Wie sich zeigt, nutzen Banken bei der Berechnung des haftungsfähigen Eigenkapitals tatsächlich einen gewissen Ermessensspielraum aus, um ihre Kapitalquoten aufzublähen, ohne dass sich jedoch ihr Buchkapital entsprechend erhöht. Dieses Ermessen wird ihnen von den jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden gewährt. Die nationalen Behörden können die Bemühungen der Banken, ihr haftungsfähiges Eigenkapital aufzublähen, unterstützen, indem sie etwa günstige Regelungen erlassen oder bestimmte Kapitalinstrumente als haftungsfähiges Eigenkapital anrechenbar machen. Daher kann der Ermessensspielraum nationaler Behörden gut gemeinte supranationale Regeln in der Praxis effektiv untergraben.
Führt die supranationale Ebene ein neues Regulierungssystem ein und verschärft diese Regeln dann im Nachhinein wesentlich, könnte die Folge eine heterogene Reaktion der nationalen Behörden sein. Um diesem Problem zu begegnen, ist eines der Hauptziele des einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus („Single Supervisory Mechanism“, SSM) die Harmonisierung der Aufsichtspraktiken. Obwohl dabei schon erhebliche Fortschritte erzielt wurden, verfügen nationale Behörden in anderen Politikbereichen, wie zum Beispiel im Steuer- oder Konkursrecht, weiterhin über einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung der Vorgaben auf mitgliedstaatlicher Ebene. Politische Entscheidungsträger sollten sich daher bewusst sein, dass potenzielle Delegierungsprobleme zwischen supranationalen und nationalen Behörden die Effektivität der Regulierung „von oben“ untergraben könnten. Insbesondere komplexe Regulierungen, wie die Regeln für die Zusammensetzung des Bankenkapitals, sind anfällig für eine allzu großzügige Anwendung der Ermessensspielräume nationaler Behörden. Mit Blick auf die Gestaltung und Einführung neuer supranationaler Regulierung bedeutet das, einfachen Regeln den Vorzug vor komplexen Regelungen zu geben.
Thomas Mosk ist Postdoktorand am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich.
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