Am 15. August 2017, am Scheitelpunkt des Sommers, hat das Anliegen der Kritiker der Europäischen Zentralbank (EZB) gegen die Politik des Quantitative Easing (QE) einen ganz eigenen Scheitelpunkt erreicht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) legte den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. Es ist das erste Mal nach dem Verfahren zum EZB-Programm Outright Monetary Transactions (OMT) – gewissermaßen die Blaupause für den vorliegenden Fall –, dass sich das BVerfG wieder an den EuGH wendet. Während es bei OMT um die Ankündigung der EZB ging, selektiv Staatsanleihen von Ländern mit gestörtem Zugang zum Staatsschuldenmarkt anzukaufen, um die geldpolitische Transmission zu gewährleisten, hat QE deutlich konkretere Folgen. Mit ihrem Public Sector Purchase Program (PSPP) hat die EZB seit 2015 massiv Staatsanleihen von Euro-Staaten aufgekauft mit dem Ziel, die Geldbasis auszuweiten. Im Mai 2017 überschritt das Volumen dieser Käufe die 1,5 Billionen-Euro-Grenze.
Ist QE rechtswidrig?
Wie im OMT-Fall hält es das BVerfG für möglich, dass QE die Vorschriften des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in zwei Punkten verletzt. Zum einen könnte QE eine versteckte Form der Staatsfinanzierung darstellen und damit Art. 123(1) AEUV entgegenstehen. Das BVerfG geht von der Annahme aus, dass Ankäufe von Staatsanleihen auf Sekundärmärkten nicht das Verbot von Ankäufen auf dem Primärmarkt unterlaufen sollten. Genau das könne hier der Fall sein: Angesichts der Tatsache, dass das monatliche Gesamtvolumen der QE-Käufe und ihre Verteilung über alle Euro-Staaten bekannt sei, fordere es Marktteilnehmern keine außergewöhnlichen mathematischen Fähigkeiten ab, um das Schuldenvolumen zu berechnen, das die EZB von jedem Mitglied der Eurozone pro Monat übernehme. Aufgrund des enormen Volumens von QE würden die dafür qualifizierten Schuldeninstrumente zudem inzwischen knapp. Daher könnten Marktteilnehmer mit Sicherheit davon ausgehen, dass die EZB ihnen ihre Anleihen abkaufe. Damit bestehe faktisch kein Unterschied mehr zwischen Ankäufen auf dem Sekundärmarkt und solchen auf dem Primärmarkt. Somit stelle sich die Frage, ob eine Preisfindung auf dem Markt noch stattfinde. Das BVerfG sieht sich in dieser Annahme dadurch bestätigt, dass die EZB die Mindestfrist zwischen Emission und Ankauf geheim hält, dass sie kein Auslaufdatum für QE festgelegt und die bisher angekauften Anleihen bis zur Fälligkeit gehalten hat.
Mit Blick auf die Grenzen des geldpolitischen Mandats der EZB (Arts. 119 und 127 AEUV) erkennt das BVerfG an, dass es ein legitimes Ziel der Geldpolitik der EZB sei, die Inflation nahe an 2% zu bringen und dass die EZB im Rahmen von QE geldpolitische Instrumente verwendet. Es wirft jedoch die Frage auf, ob nicht das schiere Volumen von QE den Charakter des Programms als Geldpolitik verzerre. Während die Auswirkungen von QE auf die Inflation bisher unklar geblieben seien, habe es den Staaten eine verlässliche Finanzierung beschert, sodass diese ihre Anstrengungen in Richtung Haushaltskonsolidierung zurückfahren konnten.
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Lektion gelernt
Abgesehen von den rechtlichen Aspekten unterscheidet sich die Vorlage diesmal jedoch deutlich vom OMT-Fall. Dessen Überweisung führte zu einer winterlichen Unterkühlung des Verhältnisses zwischen den beiden Gerichten. Karlsruhe hatte damals keinen Zweifel daran gelassen, dass es das OMT-Programm als rechtswidrig ansieht. Es ging so weit, dem EuGH eine reduzierte Version von OMT nahezulegen – mit der Androhung, sich nicht an die Entscheidung des EuGH zu halten, sollte er anders entscheiden. Der EuGH erteilte den Ansichten des BVerfG eine kühle Absage, indem er der EZB breiten Spielraum in der Festlegung ihrer Geldpolitik einräumte. Das BVerfG fügte sich widerwillig.
Es scheint, dass das BVerfG daraus gelernt hat. Diesmal hat es in seinem Urteil einen völlig anderen Ton angeschlagen. Der Text liest sich eher wie eine moderate und ausgewogene Einladung zum gerichtlichen Dialog als eine Anklageschrift. Fünfzig Jahre nach dem „Summer of Love“ scheint eine vergleichbare Harmonie zwischen den beiden höchsten Gerichten Einzug zu halten. Das BVerfG lässt alle Türen offen. Nahezu jede Schlussfolgerung, die es auf den 63 Seiten seiner Entscheidung trifft, ist relativiert und als Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Aussicht verpackt, ohne absolute Wahrheitsansprüche zu erheben.
Was die europäischen Richter klären müssen
Die Vorlage des Falles wirft zwei Fragen auf, die der EuGH wird klären müssen. Zum einen steht im Raum, inwieweit die Entscheidungsgründe des OMT-Urteils des EuGH auch für QE relevant sind. In dieser Hinsicht ist das BVerfG nicht auf einige maßgebliche Unterschiede zwischen den zwei Programmen eingegangen. Das Ziel von OMT war es, irrationale spekulative Entwicklungen auf den Märkten für Staatsanleihen einzudämmen. Es musste daher hoher Geheimhaltung unterliegen, ohne eine Volumenbegrenzung im Voraus – was das BVerfG kaum akzeptieren konnte – und ohne Informationen über mögliche Käufe zu kommunizieren. Im Gegensatz dazu soll QE die Entscheidungen und Erwartungen von rationalen Investoren und Verbrauchern beeinflussen. Dies erfordert ein hohes Maß an Verlässlichkeit. Die Veröffentlichung des astronomischen Volumens und des Volumens der monatlichen Käufe dient diesem Zweck. Dass die Maßnahmen der EZB damit für die Investoren in hohem Maß vorhersehbar sind, ist eine direkte Folge dieses speziellen Ziels von QE. Wenn man QE also für grundsätzlich zulässig hält, was das BVerfG explizit bestätigt, erscheint dies unvermeidlich. Ob die Berechenbarkeit der EZB-Käufe die Preisfindung in einem Maße beeinflusst, das relevant für Art. 123(1) AEUV ist, wird der EuGH entscheiden müssen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die EZB nur maximal 25 bis 30% von qualifizierten Anleihen kauft und dem privaten Sektor somit ausreichend Risiken überlässt, die im Falle einer Restrukturierung zu schultern wären. Es sollte daher nicht überraschen, dass sich, wie die EZB betont, die Zinssätze der verschiedenen Anleihen immer noch in Abhängigkeit der wirtschaftlichen Fundamentaldaten voneinander unterscheiden.
Die zweite Frage betrifft die Überprüfbarkeit geldpolitischer Entscheidungen – ein grundsätzliches Thema von hohem Interesse. Wie im OMT-Fall hatte auch das Gericht der Europäischen Union (EuG) in seiner jüngsten Entscheidung hinsichtlich der Zuständigkeit des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus für die deutsche L-Bank der EZB einen großen Entscheidungsspielraum eingeräumt (siehe Kommentar von Tobias Tröger). Man kann nachvollziehen, dass das BVerfG die Frage aufwirft, ob dieser Spielraum irgendwelche Grenzen hat. Allerdings gibt das BVerfG keinen Hinweis darauf, wie eine enge juristische Überprüfung der EZB aussehen soll, die nicht deren geldpolitische Autonomie verletzt – und damit den Wesensgrund für die Unabhängigkeit einer Zentralbank. Enge Kontrolle erscheint nur möglich, wenn Geldpolitik ein objektives mathematisches Handwerk wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Unterschiedliche geldpolitische Ansätze sowie das hohe Maß an Unsicherheit in Bezug auf ihre Effekte machen es sehr schwer, in halbwegs objektiver Weise die Angemessenheit einer bestimmten geldpolitischen Maßnahme zu untersuchen, ohne sich in die Geldpolitik einzumischen. Solche Feststellungen setzen Prognosen über vergangene und zukünftige Entwicklungen voraus – inklusive der möglichen Folgen einer Rückführung von QE –, die Gerichte schlicht nicht anstellen sollten. Stattdessen könnten Gerichte der Öffentlichkeit einen großen Dienst erweisen, indem sie Standards definieren für die Transparenz und die Verfahrensweise der EZB.
Somit unterscheidet sich der Sommer 2017 vom Sommer 1967, wo alles möglich war, durch strenge Vorgaben an das Verfahren. Sie erfordern rationalen Diskurs, Dialog und Zusammenarbeit – Dinge, die nicht länger als selbstverständlich gelten können in Europa im Jahr zwei vor dem Brexit. Der Eindruck lässt sich nicht vermeiden, dass dies Einfluss auf den konzilianten Ton des BVerfG hatte. Honni soit qui mal y pense.
Für eine längere Version dieses Textes s. SAFE Policy Letter No. 58.