SAFE Finance Blog
18 Feb 2022

Kapitalmärkte in Schwellenländern: Staatskapitalistische Börsen?

Finanzmärkte müssen nicht unbedingt liberal organisiert sein, wie die Situation in großen Schwellenländern zeigt. Dafür gibt es mitunter gute Gründe

In den vergangenen beiden Jahren hat die chinesische Regierung vielfach Investoren an den Kapitalmärkten geschockt, indem sie massiv in die Funktionsweise der Börse eingriff und aufstrebende Finanzkonzerne mit Strafen belegte. Prominent berichtet wurde auch in Europa über den abgesagten Börsengang von Jack Mas Ant Group, Tochtergesellschaft des privaten, chinesischen Großkonzerns Alibaba, oder den erzwungenen Börsenrückzug des nach Uber weltweit zweitgrößten Fahrdienstleisters DiDi.

Die Maßnahmen der chinesischen Regierung werden zumeist als Teil von Machtkämpfen gesehen, bei denen die Kommunistische Partei ihre politische Machtstellung sichert – und als staatskapitalistische Verirrung verurteilt. Der Hintergrund dieser Sicht ist eine implizite Gleichsetzung von Kapitalmärkten mit liberalen Märkten, bei denen staatliche Regelungen keine nennenswerte Rolle spielen (sollten). Bei genauerer Betrachtung ist diese Gleichsetzung allerdings falsch.

Schwellenländer greifen durchaus häufig an den Börsen ein

Sie ist nicht nur historisch irreführend, denn der Staat hat auch in Europa eine wesentliche Rolle in der Gründung von Börsen und Aktiengesellschaften gespielt. So wurde die erste „deutsche“ Aktiengesellschaft, die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie (ursprünglich „Handels-Compagnie auf denen Küsten von Guinea"), 1682 von Friedrich Wilhelm, dem sogenannten Großen Kurfürsten, gegründet. Doch auch heute sind gerade in Schwellenländern staatliche Eingriffe an den Börsen durchaus häufig, wie eine aktuelle Bestandsaufnahme zu Brasilien, China, Indien, Russland, Südafrika und Südkorea zeigt. Unsere Studie im Rahmen des DFG-geförderten StateCapFinance Projekts demonstriert, dass diese Eingriffe mitunter eine wichtige Rolle bei der nationalen wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie spielen.

So nutzen Schwellenländer ihre Derivatebörsen, um Benchmarks für Rohstoffpreise – insbesondere bei landwirtschaftlichen Produkten, Metallen und Öl mit strategischer Relevanz für die jeweils nationale wirtschaftliche Entwicklung – zu etablieren und sich der Preissetzungsmacht von Chicago, London und New York zu entziehen, eine Strategie, die insbesondere von China, Indien und Russland verfolgt wird.

Nationale Kontrolle von Finanzmarktinfrastrukturen

Börsen in großen Schwellenländern sind auch wichtig für die Finanzierung von „nationalen Champions“, die es mittelfristig mit westlichen Firmen aufnehmen können. Auch hier gibt es vielfältige staatliche Kontrollmechanismen, um zu starke spekulative Ausschläge bei den Aktienkursen zu vermeiden. Mit Ausnahme von Brasilien und Russland wird beispielsweise der Hochgeschwindigkeitshandel in großen Schwellenländern stark reguliert. Gleiches gilt für den Offshore-Handel von Aktienindex-Futures und dem Zugang ausländischer Investoren zu den Börsen, mit Ausnahmen in Brasilien und Südafrika.

Angesichts der Bedeutung von Börsen für Strategien wirtschaftlicher Entwicklung ist es schließlich wenig überraschend, dass die meisten dieser Schwellenländer großen Wert auf nationale Kontrolle ihrer Finanzmarktinfrastrukturen legen. Nur in Brasilien und Südafrika dürfen ausländische Anteilseigner an den Börsen eine dominante Rolle spielen, ansonsten werden nationale Aktionäre privilegiert, wenn die Börsen nicht gleich im Staatsbesitz bleiben. Auch Marktdruck für einheimische Börsen – etwa durch alternative Handelssysteme, Dark Pools oder von ausländischen Börsen – wird regelmäßig verhindert, um dieses staatliche Steuerungsinstrument nicht zu schwächen.

Profitmaximierung versus staatliche Zwecke

Aus unserer Sicht ist es daher sinnvoller, Börsen in einem Kontinuum zwischen liberaler und staatskapitalistischer Organisation anzusiedeln. Während es bei Börsen am liberalen Pol vor allem um die Maximierung von Profiten (der Börsengesellschaften und der Anleger:innen) geht, stehen am staatskapitalistischen Pol staatliche Zwecke im Vordergrund. Auf diesem Kontinuum sind die meisten großen Schwellenländer dem Staatskapitalismus deutlich näher als die Börsen in den etablierten Ökonomien.

Bereits heute vereinigen die großen Schwellenländer Brasilien, China, Indien, Russland, Südafrika und Südkorea ein Viertel der globalen Aktienmarktkapitalisierung und die Hälfte der Umsätze an den börsengehandelten Derivatemärkten (Futures/Options) mit stark zunehmender Tendenz, gerade auch durch den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens. Eine Gleichsetzung von Kapitalmärkten mit liberalen Märkten wird daher in Zukunft zunehmend irreführend sein. Der „China-Schock“ war nur die Spitze des Eisbergs.


Andreas Nölke ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt und SAFE Fellow.

Kai Koddenbrock ist Leiter einer Nachwuchsforschungsgruppe für Internationale Beziehungen am Exzellenzcluster „Africa Multiple“ der Universität Bayreuth.

Johannes Petry ist Principal Investigator des StateCapFinance-Projekts und Postdoktorand am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt.

Blogbeiträge stellen die persönliche Meinung der Autoren:innen dar und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten von SAFE oder seiner Mitarbeiter:innen wider.