Der Brexit bietet die Gelegenheit, die Integration der europäischen Finanzaufsicht voranzutreiben. In der Wissenschaft und in der Politik werden zurzeit verschiedene Modelle diskutiert, wie eine neue europäische Finanzaufsichtsarchitektur aussehen könnte. Ein Vorschlag sieht die Verschmelzung der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) mit der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) zu einer integrierten europäischen Finanzaufsicht mit erweiterten Kompetenzen vor. Matthias Goldmann, Juniorprofessor für Internationales Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Goethe-Universität erklärt, was rechtlich möglich wäre.
Mit einer Zentralisierung auf europäischer Ebene geht die Beschneidung nationaler Kompetenzen einher. Wäre unter geltendem EU-Recht eine solche Zentralisierung der Finanzaufsicht überhaupt umsetzbar?
EBA, EIOPA und die europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) wurden kurz nach der Finanzkrise 2008 ins Leben gerufen und erhielten nur wenige Entscheidungsbefugnisse. Das hing auch mit rechtlichen Bedenken zusammen. Viele dieser Bedenken haben sich aber mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu ESMA Anfang 2014 erledigt. Sofern europäische Agenturen ein klar umrissenes Mandat besitzen, ausreichender Kontrolle seitens der Unionsorgane unterliegen und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze befolgen, können sie weit mehr Entscheidungskompetenzen übernehmen, als es derzeit im Rahmen des Europäischen Finanzaufsichtssystem (ESFS) der Fall ist. Ob diese Kompetenzen von einer Agentur wahrgenommen werden oder von drei verschiedenen, wie es derzeit der Fall ist, kann dabei nach rein pragmatischen Gesichtspunkten entschieden werden.
Ist die Übertragung von Entscheidungskompetenzen nationaler Behörden auf nachgeordnete EU-Behörden rechtlich überhaupt möglich?
Ja. Der Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion beruhen nicht auf einem starren Kompetenzgefüge. Vielmehr sieht Art. 114 AEUV vor, dass der europäische Gesetzgeber weitere Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts erlassen kann. Nach dem erwähnten Urteil des EuGH umfasst dies auch die Übertragung von Kompetenzen auf nachgeordnete europäische Behörden.
Innerhalb welcher verfassungsrechtlichen Grenzen und in welchem Umfang ist eine solche Übertragung möglich?
Bei der Übertragung von Aufsichtsbefugnissen sind das Subsidiaritätsprinzip sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren. Subsidiarität bedeutet, dass die Mitgliedstaaten diejenigen Kompetenzen behalten sollen, die sie besser wahrnehmen können als die Gemeinschaft. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist immer diejenige Maßnahme zu wählen, die die mitgliedstaatliche Souveränität am wenigsten einschränkt. Allerdings verfügt der europäische Gesetzgeber bei der Beurteilung beider Fragen über großen Spielraum. Die Übertragung der Aufsicht über bestimmte Akteure oder Produkte an eine europäische Agentur wäre zulässig, wenn der Gesetzgeber plausibel darlegen kann, dass die Entwicklung eines einheitlichen Kapitalmarktes und die Verhinderung von „Aufsichtsarbitrage“ (gezieltes Ausnutzen unterschiedlicher Regulierungsregimes) zwischen den Mitgliedstaaten diese Maßnahme erforderlich machen. Vonseiten des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts sehe ich keine Schwierigkeiten, da auch die europäischen Agenturen an die Grundrechtecharta gebunden sind.
Ziel der Europäischen Aufsichtsstruktur ist es, die systemischen Finanzmarktrisiken unter Kontrolle zu bringen. Ist die derzeitige (sektorielle) Struktur der europäischen Aufsichtsbehörden dafür geeignet?
Die sektorielle Struktur der Aufsichtsbehörden macht die Bekämpfung systemischer Risiken nicht einfacher, sie ist aber wohl nicht das Hauptproblem. Das European Systemic Risk Board, welches für systemische Risiken in erster Linie zuständig ist, hat keine Durchgriffskompetenzen, mit denen sich systemische Risiken effektiv bekämpfen ließen. Es ist darauf angewiesen, dass die Aufsichtsbehörden mit effektiver Entscheidungsbefugnis mit ihm kooperieren. Das sind nach derzeitigem Stand neben dem Einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus (SSM) vor allem die nationalen Aufsichtsbehörden. Insofern denke ich, dass eine verstärkte Europäisierung der Aufsicht auch die effektive und zügige Bekämpfung systemischer Risiken vereinfachen würde. Man muss dann einfach nicht mehr 27 nationale Behörden koordinieren. Systemische Risiken sind aber nicht auf die Aufsicht beschränkt. Sie betreffen auch die Geld- und Fiskalpolitik, welche aus verfassungsrechtlichen Gründen in den Händen der Europäischen Zentralbank (EZB), bzw. der nationalen Parlamente liegen und auch dort liegen bleiben sollten. Es bedarf also eines allseits großen Willens zur Zusammenarbeit, um systemische Risiken in Schach zu halten. Das geht meines Erachtens über die rechtliche Pflicht zur Zusammenarbeit hinaus. Es bedarf einer entsprechenden Kultur.
Interessenkonflikte zwischen europäischen und nationalen Aufsichtsbehörden verhindern, dass die von den EU-Behörden erlassenen Regeln einheitlich umgesetzt werden. Ließe sich hier mit der Erweiterung der Kompetenzen der EU-Organe gegensteuern?
Man muss hier unterscheiden zwischen legitimen und illegitimen Differenzen in der Umsetzung. Der Bankensektor ist in den verschiedenen Mitgliedstaaten zum Teil sehr unterschiedlich geprägt; denken Sie beispielsweise an die bedeutende Rolle der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland. Sofern eine unterschiedliche Umsetzung in diesen unterschiedlichen Strukturen begründet liegt, kann sie legitim sein. Mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip spricht eine solche Situation auch gegen die vollständige Europäisierung der Aufsicht. Jedoch besteht oft nur ein schmaler Grat zwischen legitimen Unterschieden in der Umsetzung und illegitimen Versuchen, dem heimischen Bankensektor durch Aufsichtsarbitrage einen Vorteil zu verschaffen. Letzteres kann zu Fehlallokationen führen, die in Stabilitätsrisiken münden. Wenn Aufsichtsarbitrage überhandnimmt, dürfte das Subsidiaritätsprinzip einer Übertragung weiterer Kompetenzen an SSM oder EBA nicht entgegenstehen.