Zwischen Ökonomen ist eine große Diskussion wieder entflammt: Wird das derzeitige Niedrigzinsumfeld durch Zentralbanken verursacht? Oder gibt es fundamentale Faktoren, die den natürlichen Zins drücken, an dem die Europäische Zentralbank (EZB) und andere Zentralbanken sich in ihren geldpolitischen Entscheidungen orientieren? Aus meiner Sicht sprechen einige Argumente für die zweite These.
Seit mehr als 15 Jahren arbeite ich zusammen mit verschiedenen Co-Autoren mit quantitativen makroökonomischen Modellen, die sich mit den Effizienz-, und Verteilungs- und Wohlfahrtswirkungen des demographischen Wandels beschäftigen. Der Ursprung dieser Studien liegt in Arbeiten in den 1990er Jahren, lange bevor die Stichworte „Savings Glut Hypothese“ (auch „Sparschwämme“) und „säkulare Stagnation“ geprägt wurden beziehungsweise an Popularität gewannen, wobei der Begriff säkulare Stagnation eigentlich auf Alvin Hansen in den 30er Jahren zurückgeht. Sie greifen aber exakt die Mechanismen auf, die hinter diesen Schlagworten stecken.
Das Verhältnis von Kapital und Arbeit
Ein wichtiger Aspekt dieser Arbeiten ist es (neben der an sich zentralen Wohlfahrtsfrage), eine Aussage über den Verlauf des Grenzprodukts oder der Kapitalrenditen zu treffen. Das Interesse an Kapitalrenditen seinerzeit kam daher, dass Ökonomen evaluieren wollten, ob sich fundamentale Rentenreformen auszahlen, da nicht nur umlagefinanzierte Rentensysteme, sondern auch Kapitalmärkte demographieanfällig sind. Zudem würde eine Erhöhung der Ersparnis durch eine stärkere Kapitaldeckung in der Altersvorsorge die Rendite weiter drücken.
Wie können wir uns die Zusammenhänge zwischen Kapitalrenditen vorstellen? Eine Metapher ist hilfreich. Zwar vernachlässigt sie zahlreiche Mechanismen, doch der Kern des Ganzen wird so verständlich. Stellen wir uns also ein Unternehmen vor, das Tische produziert. Zum Einschrauben der Tischbeine beschäftigt es Arbeiter. In der Produktion setzt es also den Kapitalstock (den Maschinenpark und Gebäude) und Menschen ein. Nehmen wir nun an, dass von heute auf morgen wegen des demographischen Wandels nur noch halb so viele Arbeiter da sind. Gehen wir nun noch einen Schritt weiter und nehmen den Extremfall an: Es gibt gar keine Arbeiter mehr. Dann bricht die Produktion zusammen und auch die Rendite des eingesetzten Kapitals geht gegen Null bzw. wird negativ, wenn man berücksichtigt, dass Kapital über die Zeit an Wert verliert (Abschreibung).
Das Bild vernachlässigt viele Faktoren: unter anderem, dass der demographische Wandel kein plötzliches Ereignis ist, und dass die Firma in der Produktion einen Mangel an Arbeitskräften durch Maschinen auffangen kann. Diese und zahlreiche andere Aspekte gilt es in einer quantitativen Analyse der makroökonomischen Auswirkungen des demographischen Wandels zu berücksichtigen.
Ich fasse stichwortartig einige wichtige Punkte dieser Arbeiten aus den vergangenen 15 Jahren zusammen (Börsch-Supan et al. 2003a; Börsch-Supan et al. 2006; Börsch-Supan et al. 2014; Krueger und Ludwig 2007; Ludwig und Vogel 2010; Ludwig und Reiter 2010; Ludwig et al 2012; Vogel et al. 2017): Wie unsere Metapher nahelegt, ist eine zentrale Frage das Verhältnis von Kapital zu Arbeit und hier wird die Frage nach der Substitutionselastizität der beiden Faktoren relevant. Bei herkömmlichen Annahmen dazu sinken langfristige Kapitalrenditen circa zwischen 0,8 und 1 Prozentpunkte zwischen den Jahren 2005 und 2035, unter Berücksichtigung internationaler Diversifikation und Endogenität von Arbeit.
Dämpfend wirken, wie auch Studien zahlreicher weiterer Autoren gezeigt haben, zum Beispiel eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, Migration junger Arbeitskräfte, Humankapitalinvestitionen und arbeitssparender technischer Fortschritt. Letzterer Aspekt ist nicht in meinen eigenen zitierten Arbeiten enthalten, verhält sich aber zum genannten Humankapitalmechanismus formal ähnlich. Gezeigt haben dies Heer und Irmen (2014) und die These wurde kürzlich von Acemoglu und Restrepo (2017) aufgegriffen.
Diese Anpassungen laufen gegen die in unserer Metapher skizzierte starke Komplementaritätsbeziehung zwischen Kapital und Arbeit, die ich aber für mittel- bis langfristige Fragestellungen wie diese auch bezweifle. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass die Anpassungsmechanismen allenfalls dämpfend wirken.
In jüngster Zeit haben Ökonomen den Versuch unternommen, diese makroökonomischen Modelle zu verwenden, um Aussagen über den risikofreien Zins zu machen, also den natürlichen Zins. In den letzten Jahren ist nämlich das Interesse der Zentralbanker an diesen Modellen gestiegen; diese Arbeiten kranken aber eben genau daran, dass versucht wird, eine risikofreie Rendite in einer deterministischen Produktionsökonomie abzubilden (zum Beispiel Gagnon et al. 2018). Das ist aber inkonsistent, weil die gesamtwirtschaftliche Produktion Risiken ausgesetzt ist, was die gesamtwirtschaftliche Rendite in einem entsprechenden Aufschlag widerspiegeln muss. Beim natürlichen Zins hat man aber einen risikofreien Zins im Blick. Die beiden Objekte – natürliche Rendite und Gesamtrendite des Produktivkapitals – hängen natürlich stark miteinander zusammen, wie Larry Summers vielfach argumentiert. Will man dies aber modellkonsistent angehen, so braucht man aus meiner Sicht Modelle mit Portfoliowahl und endogen bestimmten risikofreien und riskanten Renditen. Diese makroökonomischen Modelle sind jedoch technisch sehr aufwendig.
Die Rolle der Demographie
Bereits im Jahr 2003 haben wir das in Börsch-Supan et al. (2003b) approximativ gelöst. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass wegen einer höheren Nachfrage älterer Personen nach relativ risikofreien Kapitalanlagen der risikofreie Zins im genannten Zeitraum von 2005 bis 2035 noch stärker sinkt, nämlich um circa 1,5 Prozentpunkte. Die Approximation bestand seinerzeit darin, dass wir den Bondmarkt zwar konsistent modelliert haben, den Verlauf der Kapitalproduktivität aber aus einem deterministischen Modell entnommen und damit einen Feedback-Mechanismus vernachlässigt haben. Wer sich mit solchen Arbeiten aber auskennt, wird schnell merken, dass diese Approximation nicht allzu grob ist. Diese Vermutung wird in meiner jüngsten Arbeit zu dieser Fragestellung bestätigt (Geppert et al. 2016).
Dies untermauert, dass offenbar mit der Demographie ein fundamentaler ökonomischer Mechanismus existiert, der den natürlichen Zins gegen Null drückt. Wichtig ist auch zu betonen, dass diese Arbeiten durchaus den langfristigen Trend der risikofreien Realzinsen seit den 1980er Jahren nachzeichnen können. Ob in einem Umfeld mit einer wirtschaftlichen Situation, wie wir sie seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 in Europa und anderen Staaten beobachten (was die auf die demographische Entwicklung abzielenden Modelle nicht abbilden), der natürliche Zins dann tatsächlich nahe Null fällt, vermag ich zwar nicht abschließend zu beurteilen. Es erscheint mir aber durchaus plausibel und einige ökonometrische Studien legen dies nahe, siehe z.B. die Diskussion in Papetti (2019). Dass in einer solchen Situation Negativzinsen notwendig sind, um die Wirtschaft zu stimulieren, ist es ebenso.
Alexander Ludwig ist Programmdirektor „Macro Finance – Monetary Policy and Fiscal Stability” beim Research Center SAFE.
Literaturverzeichnis
Acemoglu, D. und P. Restrepo (2017) “Secular stagnation? The effect of aging on economic growth in the age of automation”, American Economic Review, 107(5), S. 174-79. Börsch‐Supan, A., F. Heiss, A. Ludwig und J. Winter (2003a) “Pension reform, capital markets and the rate of return”, German Economic Review, 4(2), S. 151-181. Börsch-Supan, A., A. Ludwig und M. Sommer (2003b) „Demographie und Kapitalmärkte: Die Auswirkungen der Bevölkerungsalterung auf Aktien-, Renten- und Immobilienvermögen“, Deutsches Institut für Altersvorsorge. Börsch-Supan, A., A. Ludwig und J. Winter (2006) “Ageing, Pension Reform and Capital Flows: A Multi-Country Simulation Model”, Economica, 73(292), S. 625-658. Börsch-Supan, A., K. Härtl und A. Ludwig (2014) “Aging in Europe: Reforms, international diversification, and behavioral reactions”, American Economic Review, 104(5), S. 224-29. Cutler, D. M., J. M. Poterba, L. M. Sheiner und L. H. Summers (1990) “An Aging Society: Opportunity or Challenge”, Brookings Papers on Economic Activity, 1990(1), S. 1-73. Gagnon, E., B. K. Johannsen und D. Lopez-Salido (2018) “Understanding the New Normal: the role of demographics”, Finance and Economics Discussion Series, Washington: Board of Governors of the Federal Reserve System. Geppert, C., A. Ludwig und R. Abiry (2016) “Secular Stagnation? Growth, Asset Returns and Welfare in the Next Decades: First Results”, SAFE Working Paper No. 145. Heer, B. und A. Irmen (2014) “Population, pensions, and endogenous economic growth”, Journal of Economic Dynamics and Control, 46, S. 50-72. Krueger, D. und A. Ludwig (2007) “On the consequences of demographic change for rates of returns to capital, and the distribution of wealth and welfare”, Journal of monetary Economics, 54(1), S. 49-87. Ludwig, A. und M. Reiter (2010) “Sharing Demographic Risk – Who Is Afraid of the Baby Bust?”, American Economic Journal: Economic Policy, 2(4), S. 83-118. Ludwig, A. und E. Vogel (2010) “Mortality, fertility, education and capital accumulation in a simple OLG economy”, Journal of Population Economics, 23(2), S. 703-735. Ludwig, A., T. Schelkle und E. Vogel (2012) “Demographic change, human capital and welfare”, Review of Economic Dynamics, 15(1), S. 94-107. Papetti, A. (2019) “Demographics and the natural real interest rate: historical and projected paths for the euro are”, ECB Working Paper Series No. 2258, March 2019. Vogel, E., A. Ludwig und A. Börsch-Supan (2017) “Aging and pension reform: extending the retirement age and human capital formation”, Journal of Pension Economics & Finance, 16(1), S. 81-107. |