Jan Pieter Krahnen kritisiert unser Paper "Target Risks without Euro Exits", das im CESifo Forum IV, 2018 veröffentlicht wurde. Mit diesem Beitrag antworten wir darauf in aller Kürze.
Basierend auf institutionellen Spezifikationen und Bilanzgleichungen (und nicht auf einem Modell, wie Krahnen meint) zeigt unser Paper, dass Target-Salden eine potenzielle Risikoverlagerung zwischen Euro-Ländern anzeigen, auch wenn die gemeinsame Haftung bei geldpolitischen Operationen formal ausgeschlossen ist und kein Land die Eurozone verlässt. Das Risiko, von dem wir ausgehen, ist ein Verlust von Vermögenswerten jeglicher Art einer nationalen Notenbank, einschließlich ihrer Vermögenswerte aus geldpolitischen Geschäften wie der Bereitstellung von Refinanzierungskrediten an Banken oder dem Kauf von marktfähigen Vermögenswerten.
Jan Pieter Krahnen argumentiert, dass aufgrund einer übergeordneten Bankenaufsicht nach dem Baseler Abkommen keine relevanten Risiken auftreten können. Die Regulierung hält seiner Meinung nach die Aktivwerte der Banken auch bei massiven Verlusten – solchen, die nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 Prozent oder gar 0,1 Prozent eintreten würden – über dem Niveau der besicherten, vorrangigen Verbindlichkeiten, zu denen auch die Zentralbankforderungen gehören. Die Forderungen der EZB an die Banken seien überbesichert und sicher. Die Verluste, falls vorhanden, "werden von privaten Anlegern getragen, nicht von Steuerzahlern und insbesondere nicht von Zentralbanken".
Wir stimmen diesem Argument aus zwei Gründen nicht zu.
Erstens bezweifeln wir, dass die in der Bankenregulierung verwendeten Modelle, auf die sich Krahnen bezieht, geeignet sind, systemisch korrelierte Risiken der Art zu bewerten, wie sie in den Jahren 2007 und 2008 die Welt erschüttert haben, aber auch in vorherigen Bankenkrisen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte, wie es von Reinhart und Rogoff beschrieben wurde (This Time is Different, Princeton University Press 2011).
Diese Risiken haben wenig gemein mit jenen, die sich aus Marktwertveränderungen einzelner Vermögenswerte ergeben und von den gebräuchlichen, regulatorischen Modellen erfasst werden. Diese Modelle basieren typischerweise auf einem Stützbereich von fünf Jahren oder weniger, der heute nicht einmal mehr die Lehman-Krise erfasst. (Sind es "Spielmodelle", um Krahnens eigene Worte zu nutzen?)
Wir sind mehr als überrascht über das Vertrauen, das Krahnen in den modellbasierten Ansatz der Bankenregulierung legt, der sich bekanntlich als völlig unzureichend erwiesen hat, die in den Jahren 2007 und 2008 kulminierenden Risiken zu erfassen. Dieser Ansatz konnte weder verhindern, dass sich die Wall Street in ein Spielkasino verwandelte (Sinn, Casino Capitalism, Oxford University Press 2010), noch wird er in Zukunft verhindern, dass die EZB bei ihren Refinanzierungsgeschäften Risiken eingeht. Haben wir nichts aus der Finanzkrise gelernt?
Wenn diese optimistische Sichtweise der Bankenregulierung richtig wäre: Warum hat dann der EZB-Rat im Jahr 2012 beschlossen, die griechische Zentralbank zu zwingen, alle ausstehenden Refinanzierungskredite, die sie den Geschäftsbanken zur Verfügung gestellt hatte, in ELA-Kredite umzuwandeln, um eine Risikoteilung aufgrund einer offensichtlichen Unterbesicherung zu vermeiden? Und warum fordern Autoren wie Admati und Hellwig (The Bankers' New Clothes, Princeton University Press 2013) immer wieder, dass Banken 30 Prozent statt nur 3 Prozent Eigenkapital in der Bilanz (Leverage Ratio) halten sollten, was nach dem Baseler Abkommen das Minimum darstellt? Warum hielten es die EU-Länder für notwendig, dem permanenten Rettungsfonds ESM die Aufgabe zu übertragen, als „Backstop“ für die nationalen Bankenabwicklungsfonds zu dienen, wenn das gesamte Risiko bereits von privaten Aktionären und privaten Inhabern vorrangiger Bankschulden getragen wird?
Kredite an Banken sind nicht einmal die wichtigsten Quellen der Target-Risiken
Zweitens übersieht Krahnen, dass Forderungen an Banken nur ein kleiner Teil der monetären Aktiva der EZB sind. Der größte Teil des in der Eurozone existierenden Zentralbankgeldes kam nicht durch die Gewährung von Refinanzierungskrediten an Banken in Umlauf, sondern durch den Kauf von marktfähigen Vermögenswerten, die von Nichtbanken ausgegeben wurden, wie wir es in unserem Paper erklärt haben. Selbst eine äußerst strenge Bankenaufsicht kann das Eurosystem nicht vor dem Risiko des Ausfalls dieser Vermögenswerte schützen. Dies ist ein trivialer, aber wichtiger Punkt, den der Autor übersehen zu haben scheint.
Möglicherweise hat Krahnen unseren Begriff "Geldschöpfungskredit" missverstanden und mit "Refinanzierungskredit" gleichgesetzt. Auf Seite 37 unseres Papiers definieren wir jedoch explizit, was wir meinen:
"Als Geldschöpfungskredite bezeichnen wir hier die Summe aus allen das Zentralbankgeld in Umlauf bringenden Maßnahmen im weitesten Sinne, also nicht nur die Refinanzierungskredite üblicher Art, sondern auch die Käufe von Schuldtiteln inklusive der Käufe im Rahmen des PSPP-Programms und nach dem ANFA-Abkommen. Auch ELA-Kredite rechnen wir dazu. Die Summe der Geldschöpfungskredite ist deshalb gleich der Geldbasis (M0)."
Wir bedauern es, wenn dieser Begriff für Verwirrung gesorgt haben sollte. Aber wir benötigten ihn, weil die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Geldvermögen in der Zentralbankbilanz für unsere Zwecke nicht sinnvoll war und den Text schwerfälliger gemacht hätte.
Die Einbeziehung der Käufe von Vermögensobjekten in die Risikobewertung ist insofern wichtig, als die Mehrzahl der Vermögenswerte in den Bilanzen der Zentralbanken heute Staatsanleihen sind und dies wahrscheinlich noch für eine lange Zeit so bleiben wird. Staatsanleihen sind jedoch riskante Vermögenswerte, da die meisten Staaten der Eurozone weit über der Maastricht-Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet sind und alle Versionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die wir seit 1996 gesehen haben, vielfach verletzt wurden. Selbst wenn die Bankenregulierung respektiert würde und die Banken sicher wären: die Regulierung der Staatsverschuldung wird von den Staaten überhaupt nicht respektiert. Die Folge ist, dass es heute eine erhebliche Zahl völlig überschuldeter Staaten in der Eurozone gibt. Über das Target-System wurde ein Teil der Staatsverschuldung in Europa effektiv vergemeinschaftet, und dies auch in Fällen, in denen eine Vergemeinschaftung formal ausgeschlossen war.
Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Eurozone bereits Erfahrungen mit mehreren Staatsbankrotten hatte, die alle Griechenland betrafen. Anfang des Jahre 2012 gab es einen Schuldenschnitt zu Lasten privater Gläubiger in Höhe von 105 Milliarden Euro, und im Herbst desselben Jahres wurden die griechischen Schulden bei öffentlichen Gläubigern umstrukturiert, indem die Laufzeiten verlängert und die Zinsen zehn Jahre lang ganz ausgesetzt wurden. Der Verlust für die die Staatengemeinschaft in Barwerten ausgedrückt war damals 43 Mrd. Euro. Sodann hatte ja das Direktorium des ESM Griechenland auf dem Höhepunkt seiner neuerlichen Krise im Sommer 2015 formell für insolvent erklärt. Die Insolvenz führte dazu, dass Griechenland abermals mit einer das Land entlastenden Umschuldung und einem dritten Rettungspaket bedacht wurde. Und im Jahr 2018 schließlich wurde dieses dritte Rettungspaket abermals umgeschuldet, indem die Laufzeit nochmals verlängert und weitere zehn Jahre zinsfrei gewährt wurden.
Man beachte, dass die Möglichkeit der staatlichen Insolvenz auch jegliche Hoffnung zunichte macht, der zuständige Nationalstaat werde sein Zentralbank rekapitalisieren, wenn sie ihren Zahlungsverpflichtungen im Eurosystem nicht nachkommen kann, weil die von der Zentralbank gehaltenen Papiere dieses Nationalstaates ausfallen. Selbst wenn es Rechtsanwälten gelingen sollte, aus den EU-Verträgen und Satzungen zur Zentralbank eine Rekapitalisierungspflicht herauszulesen, die nach unserer Kenntnis nirgendwo explizit geregelt ist, ist die Rekapitalisierung im betrachteten Fall ohnehin irrelevant. Der Schutz durch einen Staat, dessen Bankrott die Insolvenz der nationalen Notenbank im Innenverhältnis des Eurosystems auslöst, ist für die Gläubiger dieser nationalen Notenbank wertlos.
Die Unsicherheit von Staatspapieren impliziert nicht nur eine unmittelbare Gefahr für andere Zentralbanken, sondern auch eine mittelbare, und zwar insofern, als sie die Banken, die sie besitzen, einem Risiko aussetzt und insofern auch die Refinanzierungskredite, die die Zentralbanken an diese Banken gaben, gefährdet. Im Basler System erhalten Staatsanleihen bei der Berechnung der risikogewichteten Aktiva der Banken ein Risikogewicht von Null. Bekanntlich bedeutet dies, dass die Tier-1-Eigenkapitalquote, die bei der Bankenregulierung eine solch große Rolle spielt, einen verfälschten Eindruck von der Solidität der Banken liefert. Deshalb ist auch das gesamte System der aufsichtsrechtlichen Risikobewertungen, das auf dieser Zahl basiert, grundlegend falsch. Wir sind nicht die einzigen, die zu diesem Schluss kommen, der heute als Mehrheits-Meinung unter den Ökonomen angesehen werden kann.
Eine Public-Choice-Sicht der Glaubwürdigkeit des Basel-Systems
Jan Pieter Krahnen argumentiert, dass selbst wenn Banken entgegen seiner eigenen Einschätzung nicht völlig sicher sind, die Regulierungsbehörden diese sicherer machen sollten, statt zu versuchen, die Target-Salden durch direktere Maßnahmen einzudämmen.
Wir stimmen damit nicht überein. Das nicht nur deshalb, weil Target-Risiken, die sich aus dem Kauf von Forderungen gegen Nicht-Banken, vor allem solche gegen Staaten, ergeben, nicht auf diese Weise reduziert werden können, wie wir es oben erläutert haben. Sondern auch, weil wir den Kräften misstrauen, die hinter den Kulissen das Basel-System gestaltet haben. Allzu oft gelingt es Bankenlobbys, einen erheblichen Einfluss auf die regulatorischen Standards auszuüben. Auch wenn theoretisch ein Teil des Target-Risikos durch eine härtere Regulierung reduziert werden könnte, halten wir es für Wunschdenken, dass es im Basel-System jemals zu einer ausreichend strengen Regulierung kommen wird. Wenn uns die Public Choice Theorie etwas gelehrt hat, so die Notwendigkeit, ein gesundes Misstrauen gegenüber der Gemeinwohlorientierung öffentlicher Instanzen zu bewahren.
Wie wir in unserem Paper erläutert haben, entstehen die Target-Salden zum Teil aus dem Misstrauen privater Investoren gegenüber bestimmten Ländern: Sie sind nicht bereit, Kredite an nationale Bankensysteme und Regierungen zu den gleichen Bedingungen zu vergeben, zu denen die EZB dazu bereit ist. Mit anderen Worten unterbietet die EZB systematisch die Marktbedingungen mit billigen Krediten aus der lokalen Druckerpresse. Diese Tatsache an sich ist bereits ein deutliches Zeichen dafür, dass die Märkte der Regulierung von Staatskrediten und Geschäftsbanken durch die Urheber der Basel-Regeln und die jeweiligen EU-Organe misstrauen. Denn wenn die Märkte an die Durchsetzungsfähigkeit der Regulierung glauben würden, gäbe es keinen Grund, gefährdeten Ländern keine Kredite zu den Bedingungen der EZB zu gewähren, und die Target-Salden würden womöglich überhaupt nicht entstehen. So zeigen die Salden in gewisser Weise bereits selbst, dass die Märkte nicht an die Beschwichtigung glauben, die Jan Pieter Krahnen uns glauben lassen möchte.
Das ist nicht die einzige Erklärung für die Target-Salden. So wurde der Anstieg in den letzten Jahren vor allem durch die Liquiditätsflut erzeugt, die sich mit dem QE-Programm über die Märkte ergoss. (Siehe H.-W. Sinn, Der Schwarze Juni, Hanser, München 2016) Während der ersten Welle der steigenden Target-Salden, die im Sommer 2012 kulminierte, war dies aber die dominante Erklärung des Geschehens, und darauf bezog sich unser Paper explizit.
Das Erpressungspotential
Es gibt im Übrigen einen Fall, in dem die Target-Salden eines Tages möglicherweise nicht mehr selbst im Risiko stehen. Da sie eine Bedrohung für die Länder darstellen, die einen positiven Target-Saldo aufweisen, könnten sie von anderen Ländern genutzt werden, um Fiskaltransfers, gemeinsame Versicherungssysteme oder eine Vergemeinschaftung von Schulden zu erpressen (Eurobonds, EDIS, ESBies, ein erneuertes OMT-Programm, eine gemeinsame Fiskalfazilität, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung usw.). Wenn genug solcher Systeme etabliert sind, verschwinden die Target-Länderrisiken. Aber natürlich tragen die Steuerzahler der Gläubigerländer weiterhin die ehemaligen Target-Risiken, nur eben über andere Kanäle.
Unserer Meinung nach wäre dies wegen des moralischen Risikos und der Holländischen Krankheit, die dadurch induziert werden, wenn Transfer- und Vergemeinschaftungsregelungen schlecht konzipiert sind, nicht gut für Europa. Europa braucht mehr echte private Kapitalströme und eine private Risikoteilung, die ohne öffentliche Intervention zustande kommt und durch ausreichend hohe lokale Risikoprämien in den Zinssätzen induziert wird. Maßnahmen zur direkten Beeinflussung der Target-Salden würden nicht nur zu vorsichtigeren, sichereren und profitableren Investitionstätigkeiten führen, sondern auch das in den Target-Salden steckende Erpressungspotenzial verringern, durch die die EZB die Steuerzahler der Eurozone bereits in Haftung genommen hat.
Clemens Fuest ist Präsident am ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München.
Hans-Werner Sinn ist emeritierter Präsident am ifo Institut und Professor an der Universität München.
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