23 Mar 2021

Verteilungspolitik ist keine Zentralbanksache

Die Europäische Zentralbank erwägt eine Anpassung des Inflationsmaßes und -ziels, dabei sollten Verteilungsaspekte aber keine Rolle spielen, argumentieren Wissenschaftler in einem SAFE Policy Letter

Inflation trifft Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa äußert unterschiedlich. Die jährlichen Preissteigerungsraten trafen in Europa zuletzt vor allem ärmere Haushalte, die ihr Geld für Güter und Dienstleistungen ausgeben, die vergleichsweise teurer werden mit der Zeit. Diesen Unterschieden kann politisch Rechnung getragen werden, was jedoch keine Aufgabe für die EZB sein muss, heißt es in einem Policy Letter des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE.

„Inflation ist Ansichtssache, gewissermaßen in doppelter Hinsicht“, sagt Alfons Weichenrieder, Autor des Policy Letters bei SAFE und Professor für Finanzwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. „Zum einen ist die Inflation temporär unterschiedlich hoch für unterschiedliche Einkommensgruppen, zum anderen bieten sich verschiedene Kennzahlen für die Inflationsmessung an.“

Ärmere Haushalte sind mit höheren Preissteigerungen konfrontiert

Den Beobachtungen von Weichenrieder und seinem Ko-Autoren Eren Gürer zufolge zeigt sich für den Zeitraum von 2001 bis 2015, dass für Haushalte mit höherem Einkommen die jährliche Preissteigerungsrate tendenziell niedriger ist als für ärmere Haushalte. Demnach fällt bei reicheren Haushalten der Großteil der Gesamtausgaben eher auf Telefon, Autos, Bekleidung, Freizeit, Erholung und Kultur und somit auf Bereiche, in denen die Teuerungsrate im Durchschnitt von 25 EU-Ländern niedrig ist. Hingegen wenden ärmere Haushalte den Großteil ihrer Gesamtausgaben für Mieten, Energieversorgung und Nahrungsmittel auf, die innerhalb von 14 Jahren überdurchschnittlich im Preis gestiegen sind.

„Die eine Inflationsrate für Konsumausgaben gibt es nicht“, erklärt Weichenrieder, „dafür sind die Warenkörbe zu unterschiedlich.“ Für die Geldpolitik einer Zentralbank könnte es daher sinnvoll sein, die Inflation nicht an einem bestimmten Warenkorb abzulesen, sondern mehrere Preisindizes einzubeziehen. Trotzdem ist Umverteilungspolitik keine Aufgabe der EZB: „Die EZB hat nicht das passende Werkzeug, um die sektorale Struktur der Inflation zu beeinflussen und für Umverteilung zu sorgen, dafür ist die Steuerpolitik besser geeignet“, so Weichenrieder.

Im Gegensatz zu verschiedenen Ländern außerhalb des Euroraums fließt selbstgenutztes Wohneigentum als Konsumgröße nicht in den harmonisierten Verbraucherpreisindex ein. Auch deshalb wäre die Preisentwicklung des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP-Deflator) nach Ansicht der Autoren ein sehr interessantes alternatives Inflationsmaß. Nicht nur fließen beim BIP-Deflator die Bauleistungen in die Berechnung ein, im Vergleich zum Verbraucherpreisindex wird auch besser reflektiert, wie sich die realen Arbeitskosten der Unternehmen bei rigiden Nominallöhnen ändern. Dabei stehen nominal rigide Löhne oft im Fokus, wenn vor zu niedriger Inflation oder gar Deflation gewarnt wird.

Download des SAFE Policy Letter No. 89