19 Nov 2018

Systemische Risiken im Versicherungssektor: Mikro- und makroprudenzielle Maßnahmen sind noch nicht aufeinander abgestimmt

SAFE/ICIR-Lunch Series in Brüssel: Nathalie Berger, Helmut Gründl und Tom Wilson diskutieren über systemische Risiken und deren Bedeutung für die Aufsicht

Ein funktionierender Versicherungssektor ist wichtig für die Gesellschaft, sagte Helmut Gründl (SAFE, International Center for Insurance Regulation (ICIR) und Goethe-Universität Frankfurt) in seiner Einführung bei der zweiten Auflage der SAFE Lunchtime Series am 10. Oktober 2018. Die Veranstaltung wurde gemeinsam von SAFE und ICIR organisiert und fand bei der Vertretung des Landes Hessen in Brüssel statt. Vertreter der europäischen Versicherungsregulierung, der Versicherungsbranche und der Wissenschaft diskutierten dabei über systemische Risiken im Versicherungssektor.

In seinem Vortrag betonte Helmut Gründl, wie wichtig ein funktionierender Versicherungssektor für die Gesellschaft sei, und diskutierte mögliche Kanäle, über die Versicherer zu systemischen Risiken beitragen könnten. Gründl betonte, dass die aufsichtsrechtlichen Maßnahmen auf Mikro- und Makroebene noch nicht aufeinander abgestimmt seien und sprach über die Unterschiede von unternehmensbezogenen (entity-based) und tätigkeitsbezogenen (activity-based) Ansätzen bei der Identifikation systemrelevanter Versicherer.

Gründl stellte zwei aktuelle Forschungsprojekte des ICIR zum Thema systemisches Risiko im Versicherungssektor vor. Diese sollen dazu beitragen, systemische Risiken im Versicherungssektor besser zu verstehen und ihnen entgegen zu wirken. Das erste Forschungsprojekt führt ein Maß für das Systemrisiko ein, das das langsame Abklingen ökonomischer Schocks abbildet und zeigt, welch langfristige Auswirkungen ein in Not geratener Versicherer auf das Finanzsystem haben kann. Das zweite Forschungsprojekt, eine empirische Arbeit, zeigt, wie Versicherungsunternehmen ein Diversifikationspotenzial zwischen Lebens- und Nichtlebensversicherungsgeschäft nutzen können, um ihren Beitrag zum Systemrisiko zu minimieren. Gründl wies daraufhin, dass beide Projekte wichtige Auswirkungen auf die Frage nach der angemessenen regulatorischen Behandlung systemischer Risiken haben können.

Tom Wilson (siehe Foto), Chief Risk Officer (CRO) der Allianz SE, eröffnete aus der Branchenperspektive die anschließende Podiumsdiskussion und hob die Risiken hervor, die resultieren, wenn Versicherungsunternehmen in großem Maß in Bank- und Staatsanleihen investiert sind. Seiner Ansicht nach verschlimmern der Mangel an breit aufgestellten Anleihemärkten, aktuelle Regulierungsvorschriften für Versicherer und Banken sowie starke Verflechtungen zwischen Staatsschuldentiteln und Bankanleihen weiter die Situation. Er stellte fest, dass Bank- und Staatsanleihen, die in Krisenzeiten stark korreliert sein können, einen großen Teil der festverzinslichen Anlagen für Versicherungsunternehmen in Europa darstellen.

Um diese systemischen Konzentrationen für den Versicherungssektor abzumildern, forderte er die Vollendung der Kapitalmarktunion in Europa sowie einen tieferen und dynamischen Markt für Unternehmensanleihen. Ein solcher könne zu einer weiteren Diversifizierung der Portfolios der Versicherer und zu einer Verringerung des systemischen Risikos beitragen, dem Versicherer ausgesetzt sind.

Stärkere Kooperation der politischen Entscheidungsträger

Darüber hinaus würde es ein gut funktionierender Kapitalmarkt den Versicherern auf einem direkteren Weg ermöglichen, die Realwirtschaft zu finanzieren. Neben der Auflösung des systemischen Risikos aus der Verbindung zwischen Staat und Banken ist ein wichtiger zweiter Schritt aus seiner Sicht, die Prozyklizität aus den derzeitigen Solvency II-Eigenkapitalanforderungen herauszunehmen, indem das so genannte „Matching adjustment“ umfangreicher angewendet wird. Aus der Sicht von Wilson ist entscheidend, dass die Regelungen auf eine Weise umgesetzt werden, dass für Versicherer gleiche Wettbewerbsbedingungen auf globaler Ebene gewährleistet werden.

Nathalie Berger (siehe Foto), Head of Unit Insurance and Pensions bei der Europäischen Kommission, betonte die Bedeutung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen für global agierende Versicherer, die nur durch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den politischen Entscheidungsträgern erreicht werden könne. Sie unterstrich die starke finanzielle Stabilität der Versicherer in der EU seit der Einführung von Solvency II. Zugleich sei es aber notwendig, die weitere Entwicklung des Versicherungssektors kontinuierlich zu berücksichtigen. Anschließend gab Berger einen Überblick über die derzeit auf europäischer Ebene geltenden Maßnahmen, um die Stabilität des Versicherungssektors zu gewährleisten und systemische Risiken zu vermindern. Dazu gehören etwa Stresstests, die unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk & Solvency Assessment, ORSA) oder Kapitalaufschläge. Mit Blick auf die Entwicklung von Solvency II nannte sie das „Long Term Guarantee Package“ und verschiedene antizyklische Instrumente. Für eine erfolgreiche Neubewertung sei es erforderlich, dass alle Stakeholder ihren Beitrag leisten, insbesondere durch die Bereitstellung detaillierter Daten. Berger erklärte, dass sie weitere Arbeiten an einer tätigkeitsbezogenen (activity-based) Regulierung und die Entwicklung globaler Standards unterstütze. Für die Kommission habe es Priorität, für gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Versicherer weltweit zu sorgen, betonte Berger.