24 Jun 2016

„Die EU ist gezwungen, sich neu zu definieren“

Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt und des LOEWE-Zentrums SAFE äußern sich zum Brexit.

Prof. Dr. Jan Pieter Krahnen

Jan Pieter Krahnen„Die Brexit-Entscheidung ist für die Rest-EU ein Menetekel. Die EU ist nun gezwungen, sich neu zu definieren und neu zu positionieren, zum Beispiel im Rahmen eines Verfassungskonvents. Gesucht ist ein neuer „Bearing Point“, eine Vision, an der man sich auf dem Weg, etwa in eine immer engere Union, orientieren kann. Ein solcher Orientierungspunkt könnte ein „Avantgarde-Modell“ sein, bei dem sich eine Handvoll Staaten für einige ausgewählte Politikbereiche enger zusammenschließen, etwa im Rahmen eines klug konzipierten zwei-stufigen Bundesstaat-Modells mit einer demokratisch legitimierten Spitze, die jedoch stark eingeschränkte Handlungs- und Budgethoheit besitzt. Auch andere Modelle sind denkbar – wichtig ist, dass es einen ernsthaften Versuch gibt, ein neues gemeinsames Ziel festzulegen. Der Bereich der Finanzmärkte kann hier als Modell dienen, da ein „mehr Europa“ in der Bankenunion bereits angelegt ist. Kurzfristig werden wir an den Finanzmärkten eine enorme Instabilität erleben, bis sich alle wichtigen Institutionen neu positioniert haben. Der Brexit ist ein schwerwiegender Test der Bankenunion, dessen Höhepunkt wir vermutlich in der nächsten Woche erleben. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Finanzinstitute ebenso wie Zentralbanken und Aufsichtsbehörden Vorkehrungen getroffen haben, die es erlauben, den Schock gut zu verarbeiten.

Jan Pieter Krahnen ist Professor für Kreditwirtschaft und Finanzierung im House of Finance der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des LOEWE-Zentrums SAFE.

Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Siekmann

Helmut Siekmann„Das Ergebnis des Volksentscheids im Vereinigten Königreich ist ein Weckruf. Alle Entscheidungsträger der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten sind aufgerufen, grundlegende Reformen der Verfassung der (Rest-)Union unverzüglich in Angriff zu nehmen. Ein „weiter so wie bisher“ oder „noch mehr von demselben“ sind keine überzeugenden Strategien. Vor allem muss sofort der weit verbreitete Mechanismus beendet werden, dass Politiker auf europäischer Ebene Maßnahmen beschließen, für die dann die „bösen“ Bürokraten in Brüssel verantwortlich gemacht werden, wenn sie umgesetzt werden. Auch in den Medien wird gerne „Brüssel“ für alles Negative verantwortlich gemacht und mit der Lupe nach Fehlern und Defiziten gesucht, während die großen Leistungen der Europäischen Union kaum der Rede wert sind. Es ist jetzt angezeigt, offen und – notfalls kontrovers – zu diskutieren, wie ein künftiger Bundesstaat auf europäischer Ebene auszusehen hat. In jedem Fall sollte er über eine starke und handlungsfähige Spitze verfügen, bei möglichst weit gehender Autonomie der Länder und Regionen. Seine Einrichtungen und Organe müssen über unmittelbare demokratische Legitimation verfügen unter Einschluss von Elementen direktdemokratischer Mitbestimmung des Volkes in Sachfragen.

Helmut Siekmann ist Professor für Geld-, Währungs- und Notenbankrecht am Institute for Monetary and Financial Stability und Mitglied des Kernteams des SAFE Policy Centers.
 

Prof. Volker Wieland, Ph.D.

Volker Wieland„Die Europäische Union ist ohne Großbritannien keine Europäische Union. Sie würde einen wichtigen Teil Europas verlieren und einen entscheidenden Eckpfeiler des europäischen Friedensprojekts nach dem zweiten Weltkrieg. Das knappe Brexit-Votum muss noch nicht das letzte Wort sein. Es gibt Zeit und Raum zum Überdenken. Es wäre ein großer Fehler, wenn die anderen EU-Mitglieder mit kindischer Enttäuschung reagieren nach dem Motto „Reisende soll man nicht aufhalten“. Wir müssen anerkennen, dass sich viele Bürger in Europa, nicht nur in Großbritannien, nationale Souveränität wünschen. Für den Ausdruck nationaler Identität und den Wunsch nach Selbstbestimmung reichen Fußballmeisterschaften nicht aus. Anstatt nach jeder Krise mechanisch nach „mehr Europa“ zu rufen, müssen wir sorgfältig darüber nachdenken, wie man die europäischen Institutionen so neu justieren kann, dass sich die richtige Balance aus supra-nationalen Befugnissen und nationaler Souveränität ergibt. Für die Eurozone heißt das zum Beispiel sicherzustellen, dass nationale fiskalische Unabhängigkeit und eine stabile Währungsunion koexistieren können.“

Volker Wieland ist Professor für Monetäre Ökonomie sowie Geschäftsführender Direktor am Institute for Monetary and Financial Stability sowie Principal Investigator am LOEWE-Zentrum SAFE.