17 Jul 2019

Benoît Cœuré: Marktbasierte Inflationserwartungen könnten zu pessimistisch sein

SAFE Policy Lecture: EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré über die Rolle von Inflationserwartungen in der Durchführung der Geldpolitik

Seit der Finanzkrise befindet sich die Inflation im Euroraum auf einem anhaltend niedrigen Niveau. Diese Entwicklung hat einige Zentralbankbeobachter und Finanzmarktteilnehmer veranlasst, die Fähigkeit der Zentralbanken zur Erfüllung ihres Mandats in Frage zu stellen; im Falle der Europäischen Zentralbank (EZB) also die Preisstabilität zu wahren, die als Anstieg der Inflationsrate unter, aber nahe 2 Prozent in der mittleren Frist definiert wird. In einer SAFE Policy Lecture am 11. Juli sprach Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, über die Rolle von Inflationserwartungen in der Durchführung der Geldpolitik.

Cœuré sagte, dass die marktbasierten langfristigen Inflationserwartungen seit der Krise gesunken seien und dass sich dieser Rückgang seit Anfang des Jahres beschleunigt habe. Seiner Meinung nach hat der Rückgang der marktbasierten Inflationserwartungen jedoch nicht unbedingt etwas mit der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik der EZB zu tun. Er argumentierte, dass der Rückgang der langfristigen marktbasierten Inflationserwartungen ein globales Phänomen sei. Weiter sagte er, dass die umfragebasierten Inflationserwartungen konstant über den marktbasierten Erwartungen geblieben und damit der Definition der EZB von Preisstabilität nähergekommen seien.

Schließlich argumentierte Cœuré, dass die marktbasierten Inflationserwartungen, wenn sie um die Inflationsrisikoprämie korrigiert werden, viel eher mit den umfragebasierten Erwartungen übereinstimmen. Die Inflationsrisikoprämie ist die Kompensation, die Investoren verlangen, weil sie die Unsicherheit tragen, die mit dem künftigen Inflationspfad verbunden ist. Diese Risikoprämie könne jedoch nicht den Rückgang der kurz- und mittelfristigen Erwartungen erklären. "Die jüngsten Marktentwicklungen deuten daher auf die Erwartung hin, dass die derzeitige Schwäche im Euroraum und der globalen Nachfrage anhalten werden", sagte Cœuré.

Die Haushalte bemerken Preisänderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit

Anschließend sprach er über die Inflationserwartungen der Haushalte. Cœuré wies darauf hin, dass mehrere Studien ergeben hätten, dass sich die von vielen Menschen empfundene Inflation stark von der tatsächlichen Teuerungsrate unterscheide. Ihm zufolge sind vielen Haushalten zudem die Inflationsziele von Zentralbanken nicht bekannt. "Die Zentralbanken müssen noch viel mehr tun, um die geldpolitische Diskussion in die breite Öffentlichkeit zu bringen und damit ihre Rechenschaftspflicht zu verbessern", sagte Cœuré.

Allerdings hätten Haushalte ein ziemlich gutes Gespür für Veränderungen des aktuellen Inflationstrends, und diese Veränderungen würden sich wiederum auf ihre Erwartungen über die künftige Inflation auswirken, sagte er. Cœuré argumentierte, dass die meisten Menschen einfache Faustregeln verwenden würden, wenn sie sich Gedanken über die künftigen Inflationserwartungen machen; dabei scheint die aktuelle Inflationsrate, und vor allem Preisänderungen von häufig gekauften Produkten wie Energie und Lebensmittel, die am weitesten verbreitete Heuristik zu sein. Überraschenderweise sind diese Veränderungen der Inflationserwartungen in der Regel sehr ähnlich wie die professioneller Beobachter und Finanzmarktteilnehmer, sagte er. Für Cœuré erklärt dies, dass eine gewisse Beständigkeit der Inflation ein natürliches und unvermeidliches Phänomen ist.

Er zeigte zudem auf, dass seit kurzem eine wachsende Kluft zwischen den Inflationserwartungen der Marktteilnehmer auf der einen Seite und jenen der Haushalte und der professionellen Beobachter entstanden ist. Heute würden die Haushalte weitaus weniger skeptisch in die Zukunft schauen, sagte er. Cœuré wies auf Beiträge in der Literatur hin, die darauf hindeuten, dass die Erwartungen der Haushalte oft bessere Anhaltspunkte für künftige Inflationsraten liefern. "Finanzmarktteilnehmer sind nicht besonders gut darin, die Inflation vorherzusagen", sagte er. Seiner Meinung nach sind marktbasierte Inflationserwartungen weniger zuverlässig und nützlich für Unternehmen und Verbraucher, da sie häufig revidiert werden. Auch beeinflussen die Inflationserwartungen der Haushalte ihre Konsumentscheidungen und damit die Wachstums- und Preisentwicklung. "Wenn die Verbraucher eine steigende Inflation erwarten, neigen sie dazu, mehr Geld auszugeben", erklärte Cœuré. Darüber hinaus argumentierte er, dass die Erwartungen der Haushalte ein besserer Indikator für die Preisentscheidungen von Unternehmen seien als Prognosen professioneller Beobachter oder Finanzmarktteilnehmer.

Cœuré betonte, dass die Entscheidungsträger niemals Signale der Finanzmärkte ignorieren, aber ihren Blick auch nicht auf diese verengen sollten. Allerdings sagte er, dass die ausgedehnte Phase der niedrigen Inflation bei den Finanzmarktteilnehmern für Bedenken gesorgt habe, dass der derzeit gedämpfte Preisdruck mittelfristig anhalten werde. "Der EZB-Rat nimmt diese Bedenken ernst", sagte Cœuré.


Redetext (in englischer Sprache) von Benoît Cœuré,Direktoriumsmitglied der EZB, bei der SAFE Policy Lecture am 11. Juli 2019 in Frankfurt am Main.

Video der SAFE Policy Lecture vom 11.7. (in englischer Sprache) mit Benoît Cœuré